13 noch in den Händen ihres Vaters liegt, der sie retten kann, wenn er seine Herrschsucht bezähmt und auf die führende Stellung in Griechenland verzichtet, ist Eriphile unrettbar verloren, da sie, einmal als die Tochter der Helena, der Urheberin all des Ungemaches, welches über Griechenland gekommen, erkannt, unfehlbar für die vollbrachten Übelthaten ihrer Mutter büßen müsste, und in diesem Sinne erscheint ihr Schicksal wirklich als das tragischere. Wenn auch bei Iphigenie und selbst bei Eriphile keine persönliche Schuld, die den Tod verdient, sich nachweisen lässt, so sind doch nicht alle Personen des Stückes frei davon; wie Eriphile eigentlich an der Schuld ihrer Mutter zugrunde geht, so leidet Iphigenie durch die Schuld ihres Vaters. Diese besteht darin, dass er es gewagt hatte, zwischen der Liebe zur Macht und zu seinem Kinde zu schwanken, und einen Augenblick die Herrschaft über Griechenland dem Leben seiner Tochter vorgezogen hatte. Die Handlung dieses Dramas gibt wiederholt zu den heftigsten Seelenkämpfen Anlass; zu diesen gewaltigen Gemüthsbewegungen stehen aber die Charaktere nicht immer im richtigen Verhältnisse. Ruhm und Ehre, das Ideal früherer Zeit, welche auch die hauptsächlichsten Motive für die Personen dieses Dramas sind, scheinen durch den Einfluss Descartes *) bereits ihre alte Macht verloren zu haben und vermögen nicht mehr, das Leben des Menschen ganz zu erfüllen und ihn zu einer That¬ kraft zu erheben, welche der Bedeutung der Handlung entsprache. Die Charaktere sind daher oft kraftlos und unentschieden. Erst wenn sich kräftigere Motive, die in der Natur des Menschen tiefer begründet sind, damit verbinden, entfalten sie sich zu aller Kraft; so zeigt namentlich Clytämnestra in dem Bestreben, ihre Tochter zu vertheidigen, wessen Mutterliebe fähig ist, und Eriphile, was Eifersucht vermag. Trotz dieser Mängel gelang es jedoch dem Dichter, in die Handlung die nöthige Bewegung und Steigerung zu bringen. In der kurzen Zeit, während welcher die Handlung sich abspielt, lässt er Iphigenie die verschiedenen Arten menschlichen Leidens erfahren: voll freudiger Hoffnung, die Gattin des ersten Helden Griechenlands zu werden, kommt sie nach Aulis, um bald nach ihrer Ankunft durch die Zurückhaltung ihres Vaters und ihres Geliebten in ihrer Zuversicht erschüttert und von banger Ahnung bevorstehenden Unglücks erfüllt zu werden; dazu gesellen sich die Demüthigungen durch die falsche Nachricht von der Untreue des Achilles, die Qualen der Eifersucht und der aussichtslosen Liebe, der Verrath ihrer Freundin, die Besorgnis um Vater und Geliebten und schließlich die Schrecken des unverschuldeten Todes Mögen wir unter „tragisch“ die Gesammtwirkung, welche jedem gelungenen Drama eigenthümlich ist, die Erregung von Mitleid und Furcht und das Wohl¬ behagen, welches der daraus entstehenden Erschütterung immer nachfolgt, verstehen oder das plötzliche Eintreten von etwas Traurigem, das mit dem Vorhergehenden im Gegensätze steht, aber für den Zuhörer aus dem Zusammenhänge vollkommen verständlich ist 2); die Handlung dieses Dramas entspricht beiden Bedeutungen dieses Wortes. Obwohl die Wirkung derselben einigermaßen durch die inneren Widersprüche und Unwahrscheinlichkeiten für uns beeinträchtigt wird, wird sich der Erregung über das traurige Geschick der Iphigenie schwerlich jemand verschließen können; wie mächtig dasselbe auf die Zeitgenossen des Dichters wirkte, zeigen die Berichte aus jener Zeit) und namentlich die Verse Boileaus: Que tu sais bien, Racine, à l'aide d'un acteur, Emouvoir, étonner, ravir un spectateur ! Jamais Iphigenie, en Aulide immolée, *) Lotheissen, Geschichte der französischen Literatur im 17. Jahrhundert, II. B., S. 434. 2) Freytag, I, 7. 2) Vgl. Œuvres de Racine par Mesnard, III, 105.
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