Neunter Jahres-Bericht den k. k. Staats - Ober- Realschule Steyr. Veröffentlicht am Schlusse des Studienjahres 1878-1879. Inhalt: 1. Ueber Chaucer's lyrische Gedichte. Von Al. Würzner. 2. Schulnachrichten. Erstattet von der Direction. Steyr 1879. Herausgeber: Der k. k. Oberealschul - Director Josef Berger. Druck der M. Haas’schen Erben.
Ueber Chaucer’s lyrische Gedichte. This-iyed poete, my maister, in his dayes Made and compo-ed ful many a fresh dite. t'omplaintes, bllades, roundeles, virelaies, l'ul delectable to heren and to se —* Lydgate im Prologe zu ceinem „Fall of Princes.“ 1) Chaucer's Leben und Werke sind erst in unserer Zeit gründlichen Forschungen unterzogen worden. So haben die auf Urkunden gestützten Chaucer-Biographien von William Godwin, Sir Harris Nicolas und teilweise auch Herzberg, die alten Irrtümer und Anekdoten beseitigt und die äusseren Lebensverhältnisse des Dichters so ziemlich festgestellt. Klarer noch liegt nach den Arbeiten von Sandras, Kissner, Ten Brink und Furnivall der dichterische Entwicklungsgang Chaucer's vor uns. Alle hicher gehörigen Untersuchungen zogen indes nur die grösseren Gedichte C'haucer's in ihren Bereich, während über die kleineren, lyrischen Stücke bisher noch keine kritische und zusammenfassende Arbeit erschienen ist. Die bestehende Lücke wird durch den lange schon erwarteten zweiten Band von Ten Brink's Chaucer-Studien ohne Zweifel ausgefüllt werden. Vorliegende Arbeit stellt sich die bescheidenere Aufgabe, die über die verschiedenen Perioden von Chaucer's dichterischem Wirken verstreuten lyrischen Stücke in ein Gesammtbild zu vereinigen, mit der Form und dem Inhalte derselben bekannt zu machen, um dadurch ein Urteil über Chaucer als Lyriker zu gewinnen. Die Quellen, sowie die Zeit der Entstehung, werden bei jedem Gedichte angegeben, soweit sie durch die neuesten For¬ schungen, namentlich Furnivall's 2), fest gestellt sind. Da cine kritische Ausgabe von Chaucer's poetischen Werken leider noch mangelt, werden wir unserer Betrachtung die relativ beste und gang¬ barste der bestehenden Ausgaben, nämlich die von Morris 3) zu Grunde legen. Die ganze, auf Chaucer's Werke bezügliche Stelle citirt Sir Harris Nicolas, Potical Works of (eoffrey (haucer. p. 101. 2) In den Publicationen der C'haucer-Society, von welehen hier vor allen benützt ind die Trial Forwords to my l'arallel-Text Edition of C'haucer's Minor Poems“. London 1871. Trubner, und „One TText Print of Chaucer'- Minor Poems*. London 1871. 3) 2. Aufl. in 6 Bdn. Aldine Edition, London.
4 Wenn wir die von Bradshaw *) für unächt erklärten Gedichte abziehen, wir im 6. Bande von Morris’ Ausgabe folgende Stücke unter der finden Rubrik „Minor Poems“ angeführt: 1. The Compleynte of the Dethe of Pité. 2. Ballade de Visage 2) sauns Peynture. 3. Ballade sent to King Richard. 4. The Compleynte of Chaucer to his Purse. 5. Good Counscil of Chaucer. 6. Prosperity. 7. A Ballade. 8. L’Envoy de Chaucer a Scogan. 9. L’Envoy de Chaucer a Bukton. 10. Aetas Prima. 11. Chaucer’s Words unto his own Scrivener. 12. Oratio Galfridi Chaucer. Zu diesen 12 Stücken ziehen wir noch 13. The Complaynt of Mars and Venus. 14. Chaucer’s A. B. C. (Morr. V, 78.) Die beiden letzten Stücke übertreffen die anderen wol an Umfang, müssen aber nach Form und Inhalt zu den lyrischen Gedichten Chaucer's gerechnet werden. Wie bereits bemerkt, sind die zu betrachtenden Gedichte über die verschiedenen Perioden von Chaucer’s poctischer Wirksamkeit zerstreut. Drei solcher Perioden werden mit Ten Brink allgemein angenommen. Der ersten, welche von ungefähr 1366 bis 1372 währt, wird man von den uns hier interessirenden Stücken die folgenden drei mit Sicherheit zuteilen können: 1. Chaucer’s A. B. C. 2. Compleynte of the Dethe of Pité. 3. Aetas Prima. Chaucer ist auf dieser Stufe noch ganz Schüler der Franzosen, allein an dem Compleynte of the Dethe of Pité werden wir schon selbständige ’) Chaucer lässt die betonten vokalischen Auslaute ie (y e), y, e (e e) in den unzweifelhaft ächten Gedichten niemals mit einander reimen. Diese wertvolle Entdeckung wurde zuerst von dem Oberbibliothekar Bradshaw in Cambridge gemacht, dessen Arbeit leider nicht publicirt, sondern nur durch ein Referat Furnivall's bekannt ist. Später, aber unabhängig von Bradshaw, gelangte Ten Brink zu demselben Resultat. Auf Grund dieses wichtigen Kriteriums hat Bradshaw eine Reihe von Werken, die man früher Chaucer zuschrieb, für unächt erklärt. Ten Brink trennt sich von ihm nur in Bezug auf den „Romaunt de la Rose“, den er für ächt hält, indem er das Vorkommen der betreffenden Endreime durch die frühe Entstehungszeit dieses Gedichtes erklärt. 2) Wir bessern ohne Weiteres den sinnlosen Lesefchler „vilage“, den auch die 2. Aufl. von Morris' Ausgabe hat. Leber diesen Lesefchler s. Furnivall, Trial Forwords, p. 8, Anm. 1.
5 Züge und woltuende Unmittelbarkeit der Empfindung wahrnehmen und hervorzuheben haben. Die für Chaucer’s Entwicklung wichtige Reise nach Italien (Ende 1372 bis Ende 1373) leitet die zweite Periode ein, welche die Jahre von 1372 bis 1385 umfasst, und in der wir ihn unter italienischem Einflusse finden. Der Zeit nach werden wir hicher rechnen müssen, obwol sich speciell italienischer Einfluss nicht geltend macht: 4. A. Complaynt of Mars. B. Complaynt of Venus (?) *). 5. Chaucer’s Words unto his own Scrivener. In der dritten Periode (1385—1340) sehen wir Chaucer, frei von jedem Einflusse, seinem eigenen Genius folgen. Fast allen lyrischen Stücken dieses Zeitabschnittes ist neben dem Chaucer’s Reife charakterisirenden Realismus ein gewisser müder Ton eigen, der uns an die sorgenvollen letzten Lebens¬ jahre des Dichters gemahnt. Es fallen hieher: 6. Good Counseil of Chaucer. 7. Oratio Galfridi Chaucer. 8. L’Envoy de Chaucer a Scogan. 9. L’Envoy de Chaucer a Bukton. 10. Prosperity. 11. A Ballade. 12. Ballade sent to King Richard. 13. Ballade de Visage sauns Peynture. 14. The Compleynte of Chaucer to his Purse. Im Folgenden werden wir die einzelnen Gedichte genauer betrachten und dabei die nähere Zeitangabe und Begründung der aufgestellten Reiben¬ folge nachtragen. I. Chaucer’s A, B, C, called La Priere de nostre Dame. Dies Gebet an die Jungfrau Maria ist in 23 Strophen abgefasst, deren jede mit einem Buchstaben des Alphabets beginnt. Die Strophe besteht aus 8 fünfmal gehobenen Versen, die nach dem Schema ab ab be be reimen. In vielfach variirten Wendungen, wie die religiöse Poesie des Mittel¬ alters s’e liebte, wird die mitleidige Mutter Gottes angeflcht, sich bei Gott Vater für den Sünder zu verwenden. Das Gedicht erweist sich auf den ersten Blick als Produkt der Lehr¬ jahre, und zwar ist es, wie Bradshaw nachgewiesen hat,2) eine freie Ueber¬ ------ ') Das C'omplaynt of Mars and Venus zerfällt, wie wir am betreffenden Orte näher ausfuhren werden, in zwei Hauptheile, von welchen der zweite, das Complaynt of Venus, wahrscheinlich erst viel spater entstanden ist. 2) Morris, V, 78. Ferner ed. von Furnivall in Parallel Text Edit. Part II, Nr. 5, und nach dem besten Ms. mit dem franz. Original in One Text Print, P. I, Nr. 5. *) Nach einer Fussnote zn p. 100 von Furnivall's Trial Forwords.
tragung des „Pélérinage de la vie humaine“ von De Guileville, einem französischen Dichter des XIV. Jahrhunderts. Es fällt jedenfalls in die früheste Zeit von Chaucer's poetischer Wirk¬ samkeit. Furnivall setzt es zwischen das „Compleynte of the Dethe of Pité' und „The Boke of the Duchesse“ (1369), nämlich in das Jahr 1367 — 68. Da wir aber aus Gründen, die an betreffender Stelle angeführt werden, dafür halten, dass das Compleynte später abgefasst ist als das A. B. C., so erscheint dieses der Zeit nach als das erste der uns erhaltenen Werke Chaucer’s. II. The Compleynte of the Dethe of Pité. Die „Klage über den Tod des Mitleids“ zählt 17 Strophen zu je 7 Zeilen. Die Zeile hat 5 Hebungen, die Reime folgen dem Schema ababbec, wovon sich aber eine Abweichung in der 15. Strophe findet (ababcbc). Das Gedicht zerfällt in das Proemium mit einer Strophe, in die cinleiteude Erzählung mit 7 Strophen und in die eigentliche Klage mit 9 Strophen. Der Inhalt ist folgender: Mitleid lebte einst in dem Herzen der Ge¬ liebten, aber Grausamkeit hat es getötet. Dieser sind nun Schönheit, Jugend, Weisheit und alle anderen Tugenden der Geliebten untertan. Der Liebende, welcher die Hoffnung auf die Auferstehung und den endlichen Sieg des Mitleids nicht aufgibt, fleht dasselbe mit innigen und gramvollen Worten an: Jedoch wie mag ich stets nur Eines klagen, Da jedes Weh hienieden, jede Not Ich leide? Und doch, ich wag' Dir's nicht zu sagen, Denn was ich thu' und lasse, das, weiss Gott, Berührt Dich nicht, sei’s Leben oder Tod. Und dennoch will ich Treue Dir bewahren Bis an mein Ende, das sollst Du wol erfahren! Ja, Dein bin ich, obschon Du mich erschlagen Durch Deinen eigenen Feind, durch Grausamkeit, Und Deinem Dienste will ich nicht entsagen, Ob dräut mir Not, ob dräut mir alles Leid! O Mitleid Du, das ich gesuchet allezeit l'm Deinen TTod mag ich wol weinend stöhnen, Aus schwerem Herzen, voll von Schmerz und Thränen! Wie schon aus den hier übersetzten zwei Strophen ersichtlich ist. steht im C'omplaint die Geliebte dem Dichter deutlich vor Augen, und manche Worte und Wendungen sind cher an sie selbst als an das Mitleid gerichtet, ') Morr. VI, 258. — Eine kritische Ausgabe mit einer l'ntersuchung uber die verschiedenen Handschriften gab Ten Brink in den Essays on Chaucer, P. II (Chauc. Soc.)
aufzufassen. *) Dies stimmt aber vorzüglich zum Tone der Klage, die uns den Gram und die Zerstörtheit im Herzen des Liebenden ergreifend offen¬ bart. Wir glauben gerne mit Furnivall,2) dass dieses Gedicht uns cine unglückliche Jugendliebe Chaucer's enthüllt. Es ist wol nicht das erste Werk des Dichters, wie Furnivall meint, 3 dafür ist es zu gut in Form und Styl, aber der ersten Periode dürfte es doch angehören. Sandras *) bemerkt: „La Compleinte de la P'itié se rattache complétement au genre de Guillaume de Lorris.“ Und gewiss der Einfluss Guillaume de Lorris', des Meisters im Zeichnen allegorischer Figuren und in der descriptiven Poesie, ist nicht zu verkennen. Allein Eigentum Chaucer's bleibt die besondere Färbung des Gedichtes, die aufrichtige Wärme, der innige Ton, welche es den besten seiner lyrischen Gedichte anreihen. III. Aetas Prima. *) Das dritte Produkt der Lehrjahre Chaucer's ist eine Lebersetzung des fünften Metrums des Boethius. Sie enthält eine Schilderung der Glückselig¬ keit des ersten Zeitalters, woran sich Klagen über das jetzige schliessen. Das Gedicht besteht aus 8 achtzeiligen Stanzen. Die funfmal geho¬ benen Zeilen reimen nach ab ab be be. Indes hat die sechste Strophe abweichend ab ab bb ab, und in der siebenten fehlt die 7. Zeile. Die Reime dieser Strophe sind: ab ab be — b. Bei dem Vergleiche mit dem lateinischen Originale ergibt sich, dass Chaucer hie und da einen Schnitzer gemacht und Manches hinzugetan hat, vor allem die vier letzten Stanzen. Die Abfassung dieses Gedichtes fällt ohne Zweifel in dieselbe Zeit wie die Uebertragung von Bocthius De Consolatione Philosophia, also um 1380. IV. Compleynt of Mars and Venus.*) Dieses Gedicht zerfällt in zwei Hauptteile: A) in die Klage des Mars, und B) in die Klage der Venus. Während die erstere um das Jahr 1374, nach dem „Parlamente der Vögel“ und vor dem Boethius verfasst ist, ) Vgl. — „Obschon du mich er-chlagen durch Crausamkeit, durch deinen eigenen Feind.“ Das Mitleid tôtet iln doch nicht, wol aber die (eliebte durch ihre Grausamkeit. Val. ferner v. 95, that love and drede you ever lenger more, wo, wie schon Furnivall bemerkt, drede nicht an P'ité gerichtet sein kann, dagegen passt es zu den v. 41 aufge¬ führten Eigenschaften der Geliebten. Dort bedeutet drede: Sie war gefürchtet von Jeder¬ mann, so auch von dem Dichter. 2) Trial Forw. p. 20, Anm. 2. 2) . a. 0. p. 21. *) Etude sur Chaucer, Paris 1859, p. 107. 5) Morris VI, 400. — S. ferner Parall. TText Ed. P. II, Nr. VIII, nach 2 Hs., mit dem latein. Originale und Chaucer's Prosaübersetzung. *) Morr. VI, 260.
8 — scheint die Klage der Venus in die letzten Lebensjahre Chaucer's zu fallen, als er wenig oder gar nichts mehr schrieb. So schliesst man aus den Versen: elde, that in my spirit dulleth me, Hath of endyting all the subtilité Welnyghe bereft out of my remembraunce." Aber zweifellos wollte der Dichter beide Teile als ein Zusammen¬ gehöriges betrachtet wissen, denn es ist, wie aus dem Inhalte hervorgeht, die Klage der Venus die Antwort auf die Klage des Mars. Somit werden wir für unsere Besprechung beide Stücke in eines zu¬ sammenfassen und nur mit den Buchstaben A und B die ursprünglich ge¬ trennten Teile kennzeichnen. A. Das Gedicht beginnt mit einer 4 Strophen langen Einleitung, aus welcher wir erschen, dass die Klage des Mars eigentlich ein Valentinstag¬ Gedicht ist, das von einem Vogel gesungen wird. Hierauf folgt in 18 Stro¬ phen die halb mythologische, halb astronomische Erzählung von dem Planeten Mars, der die Liebe der Venus gewinnt und mit ihr im Taurus zusammentrifft. Aber die Sonne erscheint, und Venus flicht, während ihr Mars langsam folgt und seine Einsamkeit beklagt. Alle 22 Strophen sind im Metrum des Compleynte to Pité abgefasst. Dagegen erscheint die folgende Klage in 16 neunzeiligen Strophen. Die ebenfalls fünfmal gehobenen Zeilen haben die Reime a ab aab bec. Mars preist zuerst die Schönheit der Geliebten und drückt seinen Ent¬ schluss aus, ihr bis zum Tode treu zu bleiben. Dann folgen Klagen und der Vorwurf, dass Jupiter alle Welt in die Bande der Liebe schlagen lasse: er sei eigentlich der Urheber aller Liebespein. Mich dünkt, er hasset jeden, der da minnt, Und wie ein Fischer, wirft er arg gesinnt Die Angel aus und stellt dem Armen nach. Die süsse Speise macht wol jeden blind, Dass er gefangen wird und so gewinnt Was er erschnt, und dazu Ungemach. Er hat sein Teil, wenn auch die Rute brach: Der Hlaken schon schlägt ihm solche tiefe Wunden Er wird sein Leben lang nicht mehr gesunden! Zum Schlusse werden alle Ritter und edle Frauen aufgefordert, mit dem Trauernden zu klagen. Dies ist der erste und ältere TTeil des Gedichtes. Nach Furnivall wurde er auf John von Gaunt's Wunsch geschrieben und stellt unter der wunderlichen astronomisch-mythologischen Cewandung die Liebe zweier Per¬ ') Compl. of Mars and Venus, v. 374—376.
sonen des Adels aus Chaucer’s Zeit dar, nämlich des Earl of Huntingdon und der Herzogin von York, der Schwägerin John of Gaunt’s. *) B. An die Klage des Mars schliesst sich die Klage der Venus. Sandras zieht beide Gedichte in eines zusammen und behauptet, dass ein französisches Gedicht von Graunson, einem savoyschen Ritter, der am Hofe Richard’s II. lebte, zu Grunde liege, welches verloren scheint. Dies ist indes nur von der Klage der Venus richtig, wo Chaucer selbst im Envoy angibt: „And eke to me hit is a grete penaunce, Syth ryme in Englissh hath such skarseté, To folowe worde by worde the curiosité Of Graunson, floure of hem that maken in Fraunce Für die Klage des Mars ist es nicht bewiesen. Die Form ist ungewöhnlich schwierig. Es sind 10 Strophen, von denen die letzte das Envoy bildet. Jede Strophe besteht aus 8 Zeilen mit den Reimen ababbccb. Je drei Strophen haben dicselben Reime und denselben Refrain. Der erste Refrain ist: For every preiseth his gentilesse der zweite: Al the reverse of eny glad felyenge; der dritte: To love him best that shal I never repente. Das Envoy aber besteht aus 10 Zeilen mit dem Schema aab aab baab. V. Chaucer’s Words Unto His Own Scrivener. In einer siebenzeiligen Strophe, welche nach dem Metrum des Compleynte to Pité gebaut ist, richtet der Dichter an seinen Schreiber Adam folgenden Vorwurf: „Wenn Du noch einmal Boethius oder Troilus für mich zu schreiben haben solltest, so copiere genauer, oder Du sollst den Grind unter Deine langen Locken bekommen. Wol manchen Tag musste ich Deine Arbeit wieder machen, corrigieren und radieren, und alles wegen Deiner Nachlässigkeit und Schleuderhaftigkeit 3).“ Nach der Liste bei Furnivall (Trial Forw. p. 16) fallen die paar Verse in die Zeit zwischen 1374 und 1384, nach Bocthius und Troilus, auf welche zwei Werke ja Bezug genommen wird, und vor das „House of Fame." Näheres über den Schreiber Adam ist, so viel wir wissen, nicht be¬ kannt. *) Trial Forw. p. 79. 2) Morr. VI, 307. — Ferner gedruckt in Furnivall’s Parall. Text Ed. P. II, Nr. IX. 3) Das wird wol unter dem „rape" gemeint sein. Morris' (lossar, das, wie oft, so auch bei diesem Worte in Stich lasst, belegt nur ein Adv. rape aus dem Romaunt of the Rose, v. 6518. Die Stelle lautet: „I say and swere hym ful rape“. Ferner findet sich im Append. zum Gloss. ein Adj. rape. belegt durch v. 101 der Cokes Talo of Gamelyn in den Canterbury Tales: „Than byspak his brother that rape was of rees.“ Doch muss dasselbe Wort im Mittelenglischen auch als substant. üblich gewesen sein. Stratmann führt in seinem Wörterbuche an : rape, hrape = haste, festinatio.
10 — VI. Good Counseil of Chaucer *). Flich das Gedränge, der Wahrheit nur zu leben, Dein Gut genüge Dir, und sei's auch schmal; An Hort hängt Hass, und Fallen folgt dem Streben, Neid herrscht im Volk, betrogen überall Ist das Gemeinwol. Du selbst geniess mit Wal; Und handle recht, den andern Rat zu leihen: Und Warheit wird Dich sicherlich befreien! Müh' Dich nicht ab, das Krumme grad' zu richten, Vertrauend ihr, die schwankt nach allen Seiten, 2) Du findest Ruhe nur bei wenig Pflichten; Auch hüte Dich, gen Uebermacht zu reiten 3 Und gleich dem Hlaken mit der Wand zu streiten; Bezähm' Dich selbst, zu zügeln die Parteien: Und Warheit wird Dich sicherlich befreien! In Dehmut nimm, was Dir beschieden ist! Den Kampf in dieser Welt beschliesst der Tod; Hlier ist die Heimat nicht, hier ist es wüst Auf Wanderer, auf Kreatur in Not, Zum Ilimmel blick' und wende Dich an Gott! Der Lust entsage, Dich Deinem Geist zu weihen: Und Warheit wird Dich sicherlich befreien! Das vorstehende Gedicht, dessen Uebersetzung wir versuchten, um das Bild Chaucer's als Lyriker anschaulicher zu machen, ist wol das beste unter den hieher gehörigen Stücken. Nach Furnivall (Trial Forw. p. 8 fl) fallt es in dic Zeit von 1386 bis 1387, wo Chaucer sein Amt*) und seine Frau durch den Tod verlor und so die bittere Erfahrung machte, dass irdisches Glück vergänglich sei. Die drei Strophen sind im Metrum des Compleynte to Pité verfasst, aber mit wiederkehrenden Reimen. „And trouthe the shal delyver, hit ys no drede“ ist Refrain. *) Morr. VI, 295. 2) D. i. die (ilücksgöttin. 3) So ûbersetzt nach der Lesart der zweiten Version im Appendix „ayens an al“. Die Lesart der ersten Version, „ayein an nalle“, hat, ausser dass sie nieht gut in den Sinn des Ganzen passt, vor allem die Formschwierigkeit mit dem n des Artikels gegen sich. *) Wahrscheinlich weil die Partei des John of (aunt, Herzogs von Lancaster, der Chaucer wolwollte, durch die Gloncester-Partei von der Regierung verdrängt wurde.
11 VII. Oratio Galfridi Chaucer. *) Das „Gebet Chaucer's“ ist um dieselbe Zeit und aus derselben Stimmung herausgeschrieben wie sein „Guter Rat“. Nach den Anfangsworten führt es auch den Titel „Mother of God“. Es enthält die Bitte Chaucer's an die heilige Mutter Gottes, ihm ihre Gnade zuzuwenden und für ihn bei Christus zu bitten, damit er das ewige IIeil erlange. Das Gedicht zählt zwanzig Strophen im Metrum des Compleynte to Pité: die letzten sechs sind nach einem lateinischen Prosagebet abgefasst. 2) Es erinnert durch die Aehnlichkeit des Stoffes an „Chaucer's A, B, C“. Gedanken und Ausdruck decken sich manchmal, wie z. B. Orat. v. 93, „virgyne wemlesse“, und A, B, C. M. v. 3, „unwemmed maydenhede“, ferner „temple of our Lord“, v. 30 der Orat., und mehr ausgeführt in A, B, C, T: „Temple devoute! ther God hath his wonynge“ etc. Doch ist im Allgemeinen die Ausdrucksweise der Oratio reicher, was Epitheta wie. causar of pees, styntar of woo and strife (v. 12), well of pitec (v. 17), clere licht of day (v. 29) etc. beweisen. VIII. Envoy to Scogan.*) Der Anfang des „Geleites an Seogan“ klingt an das Complaint of Venus an, dürfte also nach demselben und zwar, wie Bradshaw glaubt, um 1393 geschrieben sein. *) In diesem siebenstrophigen Cedicht, welches in dem von Chaucer be¬ liebten Metrum des C'ompleynte to Pité verfasst ist, wird zunächt Scogan beschuldigt, durch Spottreden die Liebesgöttin erzürnt zu haben. Chaucer fürchtet, dass sie jetzt die alten Männer verfolgen werde, verwart sich aber dagegen, seine eigene l'erson damit in Verbindung zu bringen. Zum Schlusse bittet er Scogan, der „an der Quelle“ sitze, sich für ihn zu verwenden. Das Gedicht ist nicht ganz verständlich und wird es wol bleiben, so lange wir nichts Näheres über Seogan und sein Verhältnis zu Chaucer wissen. Aus einer Auseinandersetzung bei Tyrwhitt *) gcht hervor, dass Henry Seogan ein armiger war und für den Hlof scherzhafte Gedichte schrieb. Der¬ selbe führt auch eine Scogan betreffende Stelle aus Ben Jonson's Masque of the Fortunate Isles an: MereFool. Scogan? what was he? Johphiel. O, a fine gentleman and master of arts Of Henry the Fourth's time, that made disgnises For the King’s sons, and writ in ballad-royal daintily well. ’) Morr. VI, 308. — Ferner Paral. Text. Ed. P. II. 2) Paral. Text Ed. 137. *) Morr. VI, 297. *) Trial Forw. p. 8. 5) Poet. Works of Chaucer, 1868, p. 447—49.
12 - Mere Fool. But wrote he like a gentleman? In rhime, fine tinkling rhime and floward verse, Johphiel. With now and then some sense; and he was paid for’t Regarded and rewarded, which few poets Are now a-days. IX. Envoy to Bukton. *) Das „Geleite an Bukton“ ist in vier achtzeiligen Strophen nach dem Metrum des A. B. C. und um dieselbe Zeit wie das Geleite an Scogan ge¬ schrieben, nach Furnivall um 1394—95 Es ist gegen die Ehe gerichtet, die als „dotage“ und „trape“ bezeich¬ net wird. Es ist dies wol mehr Scherz oder der Ausfluss einer augenblick¬ lichen Verstimmung des Dichters als seine wirkliche Ueberzeugung. Wir wissen, dass Chaucer in dieser Zeit cin etwa 55 Jahre alter Witwer war; dennoch scheint er von jugendlichen Aufwallungen nicht frei gewesen zu sein, wenn er v. 7—8 gesteht: „I dar not writen of hit no wikkednesse, Leste I my-self falle eft in swich dotage.“ Nach Tyrwhitt's Vermutung2) ist das Gedicht gerichtet an Peter de Bukton, Fiscal (escheator) des Königs für die Grafschaft York im Jahre 1397. X. Prosperity. 3) „Wolfart“ ist in demselben Jahre *) und in demselben Metrum verfasst wie das „Gelcite an Bukton." Der Inhalt lautet: Gerade so wie Armut Nüchternheit und Schwäche Enthaltsamkeit verlangt, so sind Glück und grosse Reichtümer die Mutter des Lasters und der Nachlässigkeit; so bringt auch Macht Frechheit hervor, und Auszeichnung verdirbt oft treffliche Eigenschaften; am verderblichsten aber ist es, hohe Stellen an böse Menschen zu verleihen. Bei der Lecture dieses und des folgenden Gedichtes drängt sich un¬ willkürlich der Gedanke auf, ob Chaucer die in denselben enthaltenen bitteren Warheiten nicht in Ilinblick auf bestimmte Persönlichkeiten und ihn selbst berührende Ereignisse niedergeschrieben? Doch bleibt das immer nur eine Vermutung, da wir über Chaucer's Tun und Treiben während der Jahre 1391—94 im Dunklen sind. Wir wissen nur, dass er kein Amt während dieser Zeit bekleidete. *) Morr. VI, 299. 2) A. a. O. p. 447. 3) Morr. VI, 296. *) Furn. Trial Form. p. 8. *) S. Morr. I, p. 36. Als Richard II. sich 1389 von der (loucester-Partei freimachte und selbst die Zügel der Regierung ergriff, wurde Chaucer Aufseher über die königlichen Bauten, verlor jedoch aus uns unbekannten Gründen diese Stellung im Jahre 1391.
13 XI. A. Ballade. *) Dies Gedicht schliesst sich seinem Inhalte nach an das vorhergehende an, seine Abfassung dürfte daher vielleicht in dieselbe Zeit fallen. Anfangs gab es rechte Tugend; ihr ziemt Ehre und nicht dem Gegenteile. „All were he mitre, corone or diademe.“ Tugend lässt sich nicht wie Reichthum vererben, Gott verleiht sie nach seinem Dafürhalten. Das ist der kurze Inhalt des Gedichtes. Die Form ist die aller Bal¬ laden: 3 Strophen, deren jede 7 fünfmal gehobene Zeilen zält. Die Reime sind a b ab bcc und bleiben in jeder Strophe dieselben. XII. Ballade sent to King Richard. 2) Am 28. Februar 1394 wurde Chaucer von Richard II. cine lebens längliche Rente von 20 Pfund jährlich bewilligt, und am 4. Mai 1398 stellte ihm der König einen Schutzbrief gegen seine Gläubiger aus. Mit diesen Woltaten steht gewiss unser Gedicht in Verbindung, in dessen Geleite der dankbare Dichter dem König schätzenswerthe Ratschläge erteilt. „Einst war die Menschheit so stätig und standhaft, dass das Mannes¬ wort als Verpflichtung galt; jetzt ist sie so falsch und trügerisch, dass Wort und Tat keinen Glauben finden. Bestechung und Willfärigkeit haben die ganze Welt so verändert, dass alles verloren ist aus Mangel an Standhaftigkeit. 3) Was macht die Welt so veränderlich als die Lust, welche die Men¬ schen in der Uneinigkeit finden? Denn unter uns gilt jetzt ein Mann für tölpelhaft, der nicht durch einen Gegenstreich seinen Nachbarn schädigen oder unterdrücken kann. Also willfärige Schurkerei allein ist die Ursache, dass alles verloren ist aus Mangel an Standhaftigkeit. Die Wahrheit wird bei Seite geschoben und Vernunft als Fabel er¬ klärt, die Tugend ist landlos, Mitleid verbannt, und kein Mensch fült Er¬ barmen. Die Einsicht ist durch Begirde getäuscht, Recht ist Unrecht, Warheit Schwindel geworden, so dass alles verloren ist aus Mangel an Standhaftigkeit. 0 Fürst, Dein Wunsch gehe nach Ehrlichkeit; liebe Dein Volk und hasse Erpressung ; dulde nichts, was, in Deinem Lande getan, demselben Tadel einbringen würde; ziche das Schwert der Züchtigung; fürchte Gott, halte das Gesetz, liebe die Warheit und Würde und führe Dein Volk wie¬ der zurück zur Standhaftigkeit! *) Morr. VI, 296. *) Morr. VI, 292. 3) „That alle ys loste for lakke of stedfastnesse“ — ist der Refrain.
14 XIII. Ballade de Visage sauns Peynture. *) Dieses Gedicht besteht aus drei Balladen, die Strophe zu 8 Versen mit je 5 Hebungen und den Reimen a b abbebe. In der ersten Ballade zürnt der Dichter dem Glücke ; jede Strophe wird geschlossen durch den Refrain: „For finally Fortune I diffye. „Der Wechsel in dieser armseligen Welt zwischen Wol und Weh, zwischen Armut und einträglichen Ehrenstellen, wird ohne Ordnung oder Einsicht von dem fehlbaren Glücke bedingt. Doch liegt mir nichts an seiner Gunst ; obwol ich Zeit und Mühe verloren, ich trotze ihm. Doch blieb mir die Vernunft, in Deinem Spiegel Freund von Feind zu kennen; das hat Dein Auf- und Niederschwanken in Einer Stunde mich ge¬ lehrt. Der sich selber beherrschen kann, ist stark auch ohne Dich. Genüg samkeit soll meine Zuflucht sein, Dir aber biet' ich Trotz. O Socrates, Du standhafter Held, Dich konnte Fortuna nicht quälen ; Dir baugte nicht vor ihrem Hass, noch fandest Du an ihrer Gunst Gefallen ; Du kanntest wol ihr trügerisches Aeussere und ihren Kern, die Lüge : Auch ich kenne sie als Heuchlerin und biet' ihr Trotz.“ Die zweite Ballade enthält die Antwort des Glückes. Als Refrain erscheint: „And eke thou havest thy beste friend alyve.“ „Nur der ist elend, der sich elend dünkt, Und der sich selbst besitzt, besitzt genug. Was klagst Du, dass ich streng mit Dir verfahre, da Du doch selbst Dich meiner Herrschaft entziehst? Danke mir vielmehr für das, was Dir beschieden wurde. Du sollst nicht entbehren. Und weisst Du, ob ich Dich nicht noch fördere? Es lebt Dir noch Dein bester Freund! Ich lehrte Dich, zwische wahren und falschen Freunden zu unter¬ scheiden. Du bedarfst keiner Galle, um die Blindheit zu heilen, Du siehst jetzt klar. Hlalte Dich bereit! Du kannst mich noch gewinnen, es lebt Dir noch Dein bester Freund! Wie vielen hab' ich mich versagt, um Dir zu spenden! Willst Du mir denn gebieten, nur Dir allein zu dienen ? Dem Reich des Wechsels bist Du untertan, Und mit den Andern musst um's Rad Du treiben! Mein Wirken ist grösser als Dein Kummer, — auch lebt Dir noch Dein bester Freund!“ In der ersten Strophe der dritten Ballade replicirt der Dichter, wor¬ auf die Duplik des Glückes folgt. Der Refrain lautet diesmal: „In general this rule may nat fayle!“ *) Morr. VI, 289.
15 „Dein Wirken achte ich gering: es ist Unglück! Meinen Freund wirst Du nicht schädigen, blinde Göttin; dass ich Deine Freunde kenne, danke ich Dir. Nimm sie wieder ! Sie mögen in der Presse liegen! Die Geiz¬ hälse, die auf ihren Säcken sitzen, belagerst Du. Falscher Appetit kommt auch vor einer Krankheit: Das mag wol als Regel gelten.“ Du schmähest meine Veränderlichkeit, weil mir nun wieder zurückzunehmen beliebt, was ich Dir von meinem Reichtume mitteilte? Wie kannst Du meine Macht beeinträchtigen wollen? Das Meer hat Ebbe und Flut, der Himmel birgt Sonnenschein, Regen und Hagel; so kann auch ich mich wechselnd zeigen: Das mag wol als Regel gelten. Sieh, die Vollstreckerin der Gottheit, die alles mit Weisheit lenkt, ist was ihr Glück nennt, ihr unwissenden Blinden! Dem Himmel ist sichere Ruhe, der Welt ewig rastlose Arbeit beschieden : Das mag wol als Regel gelten.“ Im Geleite, welches aus 6 Versen mit den Reimen ababab besteht, empfichlt das Glück den Kläger seinen hochgestellten Freunden, damit sie seine Lage bessern mögen. Vorliegendes Gedicht fällt, wenn auch nicht gerade in’s Jahr 1398, wie Furnivall will *), so doch in die letzten Lebensjahre Chaucer’s. Das geht zunächst aus dem Inhalte hervor, der, in Uebereinstimmung mit den übrigen lyrischen Stücken aus jener Zeit, uns den Dichter in materieller Bedrängnis zeigt. Ferner ist das ganze Gedicht durchtränkt mit Sentenzen der Lebensweisheit und Erfahrung, wie sic nur dem Alter eigen sind. Die „Ballade vom ungeschminkten Gesichte“ ist eines der besten, je¬ denfalls das formvollendetste unter den lyrischen Gedichten Chaucer's. Sandras 2) nun sagt darüber: „La ballade etc. donne licu à de fréquents rapprochements avec des passages du Roman de la l'ose, d'une chanson d'Eustache Descbamps intitulée: Comment Franche Volonté peut resister à tous cas, et du Reméde de Fortune. Ainsi Machault avait dit : Tu vois La mer quoie et paisible Aucune fois et puis horrible La vois et pleine de tourment Tout ensi fortune se mue. Chaucer s’est appropié cette comparaison : Thou pynchest at my mutabilité The see may ebbe and flowe more and lesse. ') Trial Forw. p. 7. 2) A. a. O. p. 106.
16 Das würde, Sandras ausgenommen, dessen Fehler es ist, überall französischen Einfluss nachweisen zu wollen, wol niemand eine „Aneignung“ genannt haben. Der Vergleich zwischen dem wechselnden Glücke und dem tückischen Meere ist ein den Dichtern aller Zeiten und aller Völker so ge¬ meinsamer und naheliegender, dass ihn Chaucer sicher nicht aus dem Re¬ méde de Fortune zu holen brauchte. Die fraglichen Stellen aus dem Roman de la Rose citirt Sandras nicht, daher ist dieser Behauptung keine Bedeutung beizulegen. Was endlich das Lied des Eustache Deschamps betrifft, so haben wir es in den uns zu Gebote stehenden Werken von Deschamps* nicht gefunden und sehen uns demnach äusser Stande, die Bemerkung Sandras’ zu controlliren. XIV. The Compleynte of Chaucer to his Purse.2) Im Sommer 1399 gelangte Heinrich IV. auf den englischen Thron. Chaucer war Zeit seines Lebens vom Hause Lancaster protegirt worden und war wol dem neuen Monarchen persönlich bekannt. Seine Geldverlegenheiten mussten in dieser Zeit ärger als je gewesen sein, und so wandte er sich, im September ungefähr, im vorliegenden Ge dichte an Heinrich IV. Dasselbe ist in Balladenform geschrieben. Das fünfzeilige Geleite hat die Reime a a bb a. Der Inhalt ist wie folgt : Dir, meine Börse, klage ich, und niemand Anderem, denn Du bist meine teure Gebieterin ! Ich bin traurig darüber, dass Du nun so leicht wiegest, und, gewiss, wenn Du Dich nicht füllest, ist mir der Tod erwünscht. Da¬ rum flehe ich Dein Mittleid an: Sei wieder schwer, sonst muss ich sterben! Möge ich baldigst3) Deinen segensreichen Klang hören oder Deine der stralenden Sonne gleiche Farbe schauen, die an Goldigkeit ihres Gleichen nicht hat! Du bist mein Leben, Du bist meines Herzens Steuer! Königin des Trostes und gute Gesellin, sei wieder schwer, sonst muss ich sterben! Nun, Börse, Du meines Lebens Licht und Erlöser in der Welt, hilf mir durch Deine Macht aus dieser Stadt,*) wenn Du nicht meine Schatz¬ kammer sein willst; denn ich bin kal wie ein Bettelmönch. Aber ich wende mich an Deine Geneigtheit: Sei wieder schwer, sonst muss ich sterben! ’) Deschamps Eustache, Poésies morales etc. Paris 1831—33 in 4 °. — Oeuvres inédites, Reims 1849 in 8 °. 2) Morr. VI, 294. 3) Das soll wol durch „this day or hyt be nyghte „ausgedrückt sein: „heute (noch) oder in der Nacht“. *) D. i. London. Diese, soviel wir wissen, bisher ganz unbeachtet gebliebene Stelle scheint die Ansicht, dass Chaucer in seiner letzten Lebenszeit sich nach Woodstock oder Donington zurückgezogen habe, zu bestätigen. Dann wäre er ungefähr 1398 nur zur Betreibung seiner Interessen nach London gekommen. Diese hielten ihn bis 1100 daselbst fest, und er wurde vom Tode heimgesucht, ohne dass sein Wunsch „Oute of this toune helpe me thurgh your myght“, in Erfüllung gegangen wäre.
17 O Eroberer von Brutus’ Albion, der Du durch Geburt und freie Wal gesetzlicher König bist, Dir sende ich dieses Lied, und Du, der Du all meine Sorge mildern kannst, gedenke meiner Bitte! Chaucer’s Bittgedicht hatte Erfolg, denn am 3. October fügte Heinrich IV. vierzig Mark jährliche Pension zu den zwanzig Pfunden hinzu, welche der Dichter noch von Richard II. herbezog. Doch der Genuss dieser königlichen Schenkung war ihm nicht lange gegönnt. Er starb ein Jahr später, Ende October 1400, nachdem er schon einige Monate vorher krank gelegen hatte. So ist Chaucer’s Klage an seine Börse aller Wahrscheinlichkeit nach das Letzte was der grosse Dichter geschrieben. Welch bittere Ironie liegt in dem Gedanken, dass dies der Schwanengesang des „Morning star of Englisch song“, wie Tennyson Chaucer heisst, des „Vaters der englischen Dichtkunst“, wie die Literarhistoriker ihn gerne nennen. Be heavy again, or elles mote I dye ! Die lyrische Dichtung England’s im XIV. Jahrhundert hat, soviel davon bekannt ist, vornehmlich die Minne, Religion oder politische Ereignisse zum Vorwurfe. Chaucer’s lyrische Gedichte machen hievon keine Ausnahme. Wir besitzen zwar kein rein politisches Gedicht von ihm, wol aber Liebes¬ lieder und religiöse Gedichte. Als erstere sind vor allem das Compleynt to Pité (II) und das Compleynt of Mars and Venus (IV) anzusehen ; als letztere erweisen sich auf den ersten Blick das A. B. B. (I) und die Oratio (VII) Wichtig für die Lebensgeschichte des Dichters sind: Chaucer's Words unto his own Scrivener (V), L'Envoy de Chaucer a Scogan (VIII), L'Envoy de Chaucer a Bukton (IX), Ballade sent to King Richard (XII) und The Compleynt of Chaucer to his Purse (XIV). Sozusagen als Ausdruck allgemeiner Lebensweisheit können gelten: Aetas Prima (III), Good Council of Chaucer (VI), Prosperity (X), A Ballade (XI) und die Ballade de Visage sauns Peynture (XIII). Was die Form aller dieser Gedichte anbelangt, so ist ihnen der fünf¬ mal gehobene Vers in strophischer Gliederung gemeinsam, und zwar sind nicht weniger als 8 (II, V, VI, VII, VIII, XI, XII, XIV) der vorliegenden 14 Stücke in der siebenzeiligen Strophe mit dem Schema ab ab bec und 5 (I, III, IX, X, XIII) in der achtzeiligen Strophe mit den Reimen ab ab be be verfasst. Als Abweichungen von dieser allgemeinen Erscheinung sind anzuführen das Compleynt of Venus (IV B), welches ebenfalls aus achtzei¬ ligen Strophen, aber mit den Reimen ab ab be cb besteht und das Compleynt of Mars (IV A), welches in der bei Chaucer seltenen *) neunzeiligen Strophe *) Die Klage der Anelyda in dem Fragmente Of Queene Anelyda and False Arcyte (Morr. V, 196) ist ebenfalls in der neunzeiligen Strophe.
18 mit dem Schema aab aab bec geschrieben ist. Abweichend sind ferner einige Geleite gebildet, nämlich das des Compleynt of Venus, eine zehnzeilige Strophe mit den Reimen aab aab ba a b, das Geleite des Compleynt of Chaucer to his Purse (XIV), eine fünfzeilige Strophe mit den Reimen a a bb b, und das der Ballade de Visage sauns Peynture (XIII), eine sechs¬ zeilige Strophe mit den Reimen ab ab ab. Die Form macht sich der Dichter mitunter recht schwer; so sind VI, XI, XII, XIII und XIV im Metrum der Ballade geschrieben, nach welchem je drei Strophen nicht nur dieselben Reime, sondern auch denselben Kehrreim oder Refrain haben. Letzteren fin¬ den wir nur in den lyrischen Gedichten Chaucer’s. Der Reim ist bei Chaucer überhaupt genau, besonders in den lyrischen Gedichten. Wir können nur eine Ungenauigkeit hier anmerken; v. 64 und 66 der Oratio lauten nämlich: Wele aughten we the worschip and honour Seing that upon the was laid the cure. Honour und cure sind ungenaue Reime, da in Chaucer’s Zeit honour mit dem U-Laut, cure aber auf französische Weise ausgesprochen wurde.*) Dasselbe gilt von aventure honoure, im Compl. of Mars and Venus, v. 320—21. Eine Eigenthümlichkeit der Chaucer’schen Sprache, die sich an zal¬ reichen Beispielen der Hauptwerke nachweisen lässt, finden wir in den lyrischen Gedichten wieder, nämlich die Verbindung eines romanischen und eines germanischen Wortes am Versende, um denselben Begriff auszudrücken. Wir führen die betreffenden Stellen au : honde and alliance (II, 42), wepe and pleyne (II, 18), wepe and crien (IV, 112), visage and lokynge (IV, 327). Wir haben noch die Frage um den Wert der lyrischen Gedichte Chaucer’s zu beantworten. Derselbe ist zunächst ein biographischer. Wir denken dabei nicht blos an jene Stellen, die auf die äusseren Lebensumstände des Dichters Bezug nehmen. Es soll damit mehr gesagt sein. Wäbrend Chaucer’s übrige Werke, vor allem die Canterbury Tales durchaus den Stempel eines objectiven Realismus und Humors tragen, tritt in den lyrischen Gedichten seine eigene Individualität mehr hervor. Der scharfe Beobachter und schalkhafte Zeichner seiner Zeitgenossen lässt uns bier einen allerdings mehr ahnenden Blick in sein innerstes Selbst tun. Wir merken, dass die ruhig heiteren Züge mit den träumerischen Augen und dem leisen Lächeln um den Mund, wie uns aus Occleve's Bild2 und der Beschreibung des Wirtes in den Canterbury Tales heute noch, nach fast 500 Jahren, Chaucer’s Portrait in alter Frische anblickt, oft genug der Gedanke an harte Kämpfe und bittere Leiden umwölkt und verdüstert haben mochte; und wol muss es uns seltsam anrühren, wenn wir uns vor¬ ’) S. Ellis. On Early Engl. Pronounciation, p. 251 ff. 2) Vgl. Life of Chaucer by Sir Harris Nicolas, bei Morr. I, 83.
- 19 - stellen, dass der grosse Dichter, als er den köstlichen Prolog der Canterbury Tales schrieb, in seiner Seele vielleicht noch wund war von den Schmerzen, die uns der „gute Rat“ und das „Gebet“ in ergreifendster Weise enthüllen. Doch bleibt es nicht bei dem biographischen Werte allein. Gedichte, wie der „Gute Rat“ die „Ballade vom ungeschminkten Gesichte“ und Wol¬ fart erlangen durch ihren sittlichen Ernst und die edle Lebensanschauun die sich in ihnen ausprägt, eine allgemein menschliche Bedeutung und wer¬ den zu waren Perlen der Reflexionslyrik. Und somit, nachdem wir noch mit einem letzten umfassenden Rück¬ blick Form und Inhalt der hier besprochenen Gedichte geprüft, glauben wir uns zu dem Urteile berechtigt, dass Chaucer, dem ersten Epiker seiner Zeit, auch ein hervorragender Platz als Lyriker unter den altenglischen Dichtern gebürt. Steyr im Mai 1879. Al. Würzner. ----—-
Schulnachrichten. Das Schuljahr 1878 79 nahm, nachdem die Schüleraufname und die Wiederholungsprüfungen am 12., 13., 14. und 15. September vorgenommen worden waren, mit dem am 16. September in der Vorstadtpfarrkirche St. Michael von dem hochw. Herrn Vorstadtpfarrer J. N. Dürrnberger celebrirten Heiligengeistamte, bei welchem die Gesangschüler der Anstalt eine eigens zu diesem Zwecke in den Ferien einstudirte Vocalmesse zur Aufführung brachten, seinen Anfang. Für den am 4. Juli 1878, zufolge Auftrages des Ergänzungs- Bezirks¬ Commando in Klagenfurt, zur militärischen Dienstleistung einberufenen Real Lebrer Heinrich Drasch wurde mit Erlass des h. k. k. Landesschul¬ rathes vom 25. September 1878, Z. 3016 und 3078, für die Zeit des Bedarfes der Lehramts-Candidat Johann Crammer zum Supplenten bestellt und legte derselbe am 28. September den vorgeschriebenen Diensteid in die Hände des Directors ab. Nachdem jedoch der Reallehrer Heinrich Drasch in Folge erhal tener Beurlaubung am 10. Dezember 1878 wieder die ihm an der Anstalt zugewiesenen Unterrichtsstunden übernommen hatte, trat der bisherige Supplent Crammer aus dem Verbande des Lehrkörpers. Zufolge hohen Ministerial-Erlasses vom 11. September 1878. Z. 14.086, wurde der Supplent an der Staatsrealschule am Schottenfelde in Wien, Alois Würzner, zum wirklichen Lehrer an der Staats-Oberrealschule in Steyr ernannt. Ferner genehmigte der h. k. k. Landesschulrath mit Erlass vom 27. Sep¬ tember 1878, Z. 3106, die Wiederverwendung des bisherigen Supplenten Wilhelm Gugel auch für das Schuljahr 1878/79. Die im II. Semester des Schuljahres 1877•78 erfolgte Concursausschrei¬ bung zur Wiederbesetzung der erledigten katholischen Religionslehrerstelle hatte keinen Erfolg. Anlässlich des Allerhöchsten Namensfestes Seiner Majestät des Kaisers wurde am 4. October 1878 feierlicher Gottes¬ dienst in der Vorstadt-Pfarrkirche abgehalten, dem die Mitglieder des Lehr¬ körpers und die gesammte studirende Jugend beiwohnten und bei welchem die Gesangschüler der Anstalt die „deutsche Messe“ von Schubert und zum Schlusse die Volkshymne zur Aufführung brachten.
21 Auch das Allerhöchste Namensfest Ihrer Majestät der Kaiserin am 19. November 1878 wurde in ähnlicher festlicher Weise begangen. Vom 29. Jänner bis einschliesslich 5. Februar 1879 wurde die Anstalt von dem k. k. Landesschulinspector Herrn E. J. Schwammel in einge¬ hendster Weise inspicirt. Der I. Semester endete am 15., der II. begann am 19. Februar 1879. Der h. o. ö. Landes-Ausschuss hatte mit Sitzungsbeschluss vom 30. Jänner 1879, Z. 492, einem Schüler der Anstalt ein Franz Josef Unterrichtsstipendium im Betrage von 52 fl. 50 kr. verlichen. Die Bekanntmachung der Verleihung dieses Stipendiums, die zum Gedächtnisse an die am 18. Febiuar 1853 von der Allerhöchsten Person Seiner k. und k. Apostolischen Majestät des Kaisers Franz Jo-ef 1. glücklich abgewandte Lebensgefahr gestiftet sind, hatte im Sinne der Stittungsurkunde am 18. Februar 1879 vor sämmtlichen Schülern der Anstalt in feierlicher Weise und mit einem entsprechenden Vortrage des Directors stattgefunden. Der schöne Ehrentag der österreichischen Völker, das Allerhöchste Hochzeits-Jubiläum Ihrer k. und k. Majestäten, wurde von der Anstalt, die ja auch bisher jedes das Allerhöchste Kaiserhaus berührende Ereignis in geziemender Weise begangen hatte, würdevoll gefeiert. Am 22. April hatte sich eine Deputation des Lehrkörpers nach Linz begeben, um Seiner Excellenz dem Herrn k. k. Statthalter die Bitte zu unterbreiten, hochderselbe wolle die herzlichsten Glüekswünsche des Lehrkörpers verbunden mit der Versicherung unwandelbarer Treue und Hin¬ gebung an das Kaiserhaus zu den Stufen des Allerhöchsten Thrones gelangen lassen. Mittwoch den 23. April um 2 Uhr wurde in dem mit den Bildnissen Ihrer k. und k. Majestäten auf das festlichste geschmückten Zeichnungssaale der Anstalt und unter ungewöhnlich zahlreicher Betheiligung der hiesigen Bevölkerung, indem auch alle Spitzen der Behörden vertreten waren, ein Schulfest mit folgendem Programm abgehalten: a) Huldigungsrede des Abiturienten Blaimschein Hermann. Hochgeehrte Versammlung! Das Leben, sowol in seiner Individualität als auch im Verhältnisse zur bürgerlichen Giesellschaft und zum Staate, bringt Augenblicke, wo sich der Mensch hinausgerissen fuhlt aus dem beengenden (iedrange des Erdendaseins, hinausgerissen in eine hôhere Sphare jubelnder Freude und Feste-lust, welche sein überschwellendes Hlerz auch laut und fröhlich aussern muss. Aber nicht nur im Leben des Einzelnen, auch im Leben ganzer (emeinwesen, im Leben ganzer Volker gibt es solehe Momente, die lange und sehnsuchtsvoll erwartet werden, um fur lange Zeiten unvergesslich im Hlerzen jedes Teilnehmers fortzuleben. U'nd ein solcher hoher Freudentag ist es, welcher uns heute in festlich geschmückten Raumen zusammenfûhrt, ein solcher alle Vôlker der ôsterreichischen Monarchie bis in's Tiefste berührender Moment ist der Tag, an dem vor 25 Jahren unser allergnädigster Kaiser
22 Franz Josef I. der erlauchten Prinzessin Elisabeth von Baiern die Hand zum Bunde für das Leben reichte, zu einem Bunde, welcher bereits 25 glückliche Jahre bestanden hat, dessen Zeugen ein in Hoheit herrlich aufstrebender Jüngling und in Schönheitsfülle blühende Töchter heute als die ersten Unterthanen dem hohen Elternpaare ihren Glück¬ wunsch darbringen werden. l'ns ist es leider nicht gegönnt, unserem erhabenen Monarchen und seiner hohen Gattin persönlich nahen zu können, um Ihnen den Ansdruck der tief¬ gefühlten Empfindungen und Wünsche zu Füssen zu legen. welche an dem heutigen Tage mit so überwältigender Kraft unsern Busen schwellen. Doch, wenn uns auch der Anblick des Allerhöchsten Jubelpaares versagt ist, so ist unsere Liebe und Verehrung doch keine geringere, unsere Gefühle, unser Glückwunsch doch nicht weniger aus dem Herzen kommend, als wenn auch kein so weiter Raum uns von den Gefeierten scheiden würde. Ein Vierteljahrhundert, beinahe ein Menschenleben ist verstrichen, ein bedeutungs¬ voller Zeitraum, seitdem unser hohes Herrscherpaar vereint den Pfad des Lebens wandelt zum Glück und Wohle seiner Völker, und darum wollen wir einen Rückblick werfen auf das segensreiche Wirken und Schaffen in dieser Zeit und uns all die Liebe und Güte, all die Treue und Sorgfalt vergegenwärtigen, welche den U'nterthanen durch unser gefeiertes Herrscherpaar zu Theil geworden sind. Es ist ein Bild des reichsten bewegtesten Lebens, das sich da vor unseren Blicken entrollt, ein Bild, auf das jeder Oesterreicher mit Stolz hinweisen kann. Was unser Kaiser als Krieger zu leisten im Stande ist, wenn es gilt Oester¬ reichs Ehre vor dem Feinde zu wahren, wenn es gilt den Muth seiner braven Oester¬ reicher durch persönliches Einschreiten, durch begeisterndes Beispiel neu zu beleben, das bewies er zur (enüge in dem bedeutungsvollen Jahre 1859, wo er Freud und Leid seiner Krieger theilte und die ärgsten Strapazen wie irgend ein Soldat in der Armee ertrug. Oder sollte es nicht als ein Beweis kühnen, aufopferungsfähigen Muthes gelten, wenn er bei St. Lucia persönlich ein Bataillon Jäger zum Sturme führte, sollte nicht jedes Oester¬ reichers Hlerz bangen und doch zugleich stolz aufjubeln, wenn es sicht, wie sein Kaiser vor die Fronte einer wankenden Sturmeolonne eilt und die Leute mit den Worten: „Vorwärts, ihr Braven, auch ich habe Weib und Kind zu verlieren!“ neu belebend, kühnen Muthes zum Angriff fhrt? lnd wenn die wuthende Schlacht ausgetobt hat, und die Donner der Geschütze schweigen, wenn der geringste seiner Unterthanen der nothwendigen Ruhe pflegt, gibt es für Ihn noch keine Erholung: Ihn fuhrt Mitleid und liebende Für¬ sorge zum Krankenbette seiner verwundeten Krieger, zum Troste und zur Erquickung des Leidenden, der sterbend noch die Hand seines Kaisers drückt, um mit brechendem Auge zum letztenmale zu dem aufzublicken, dessen Hlerz mit tiefgefühlter Theilnahme das traurige Los seiner Krieger zu erleichtern strebt. Und sowie er im Kriege als Held seinen Mannen vorauszieht, so ist er im Frieden als Staatsmann der Mann der unermüdlichen Geschättsthätigkeit und der hingebendsten Fürsorge für seine Völker. Wenn wir die Fortschritte und Errungenschaften, welche wir seit seiner 30jährigen Regierung zu verzeichnen haben, uns vor Augen fuhren und im rechten Masse würdigen, so müssen wir erstaunen über die Kraft und das Herrschergenie unseres Kaisers, welcher allein im Stande war, der Grösse und der Mannigfaltigkeit der Anforderungen gerecht zu werden, welche das Jahrhundert an Ihn stellte, und die Schwierigkeiten zu überwaltigen, welche sich gerade in unserem Vaterlande einer einheitlichen Durchführung weiser und fur das (esammtwohl nützlicher Einrichtungen entgegensetzen. Das Octoberdiplom, das Februarpatent, die fur eine freie und allgemeine sowohl als individuelle Geistesbildung unendlich wichtigen Schulgesetze, welche uns in so kurzer Zeit auf eine der höchsten Bildungsstufen unter den europaischen Staaten versetzten, —wem anders haben wir sie zu verdanken, als unserm allergnädigsten Landesfürsten, unserm Kaiser und Herrn? Er hat sich durch diese Werke ein Denkmal gesetzt, das in den Herzen seiner l'nterthanen cine (rundfeste besitzt, welche jedem Sturm und jedem feind¬ lichen Angriff Trotz bieten kann und Trotz bieten wird! So zeigt er sich uns als Kaiser,
23 als Held, als Staatsmann; doch er ist noch mehr als das alles, er weiss Mensch zu sein, Mensch in der ganzen Würde und Erhabenheit des Begriffes. Sein Herz steht jedem seiner Unterthanen stets offen, das regste Mitgefühl sowol für die Gesammtheit als für Einzelne gibt er bei jedem Anlasse kund und wenn herbe Schläge seine Völker heimsuchen, ist er der Erste bereit an den Schauplatz des Unglückes zu eilen und Trost und Hilfe spendend die vom Unglück Gebeugten wieder aufzurichten. Wir mögen Ihm folgen, wohin immer, überall und immer tritt er uns als wahrhaft edler Freund seines Volkes entgegen. Welch ein erhabenes Bild ist es nicht, den Kaiser als Jäger zu sehen! Dort, wo der wilde Föhn über die Alpen rauscht, dem Wanderer Tod und Verderben bringend, wo jede Schrittbreite vom tückischen Elemente gegen den Eindringling in die Räume der Alpenwelt vertheidigt wird und gähnende Abgründe den Gemsen sichere Zuflucht geben, dort können wir den Kaiser finden. In schlichtem Gewande, die treue Büchse in der Hand, steht er auf schwindelnden Höhen, frischen Geistes und kühnen Muthes den Elementen Trotz bietend, um das edle Wild zu erlegen, dessen Jagd schon seine Ähnen mit sprich¬ wörtlichem Wagnis und Eifer betrieben. Und in welchem Kleide edler hoheitsvoller Weiblichkeit tritt uns an seiner Seite unsere erhabene Landesmutter entgegen ! Ueberall ist sie zu finden, wo es Not und Elend zu mildern gilt. Sie tritt an das Bett der Kranken, tröstet mit mildem Zuspruch und richtet Verzagte mit herzlichen Worten auf. Ueberall, wo das Elend in seiner verschiedenen Gestalt Einkehr hält, ist unsere gute Kaiserin bereit, Hilfe zu leisten, und die reichsten Gaben fliessen aus ihren milden Händen zu den Notleidenden. Dabei ist sie die beste Gattin, die zärtlichste Mutter und Grossmutter und stets bestrebt als erste Frau der Mon¬ archie in Erfüllung ihrer Pflichten allen Frauen als ein Vorbild voranzuleuchten. l’nd wie herzlich, wie überaus glücklich und liebevoll gestaltet sich der Verkehr in der kaiserlichen Familie. Ihre kaiserliche Hoheit Erzherzogin Gisela, die Gemahlin des Prinzen Leopold von Bayern, und die liebenswürdige Prinzessin Valerie hängen mit zärt¬ licher Liebe an ihren erlauchten Eltern und lassen keine (telegenheit unbenützt, um ihnen neue Beweise der Liebe und Hochachtung zu geben. Wie glücklich aber Rudolf, der erhabene Sprössling und Erbe des grossen mächtigen Reiches, seine kaiserlichen Eltern durch seinen Verstand, sein Wissen und sein edles Hlerz macht, das können wir ermessen, wenn wir daran denken, dass ja wir selbst und jeder wahrhafte Oesterreicher mit unauslöschlicher Liebe und begeisterter Verehrung zu ihm auf¬ blicken, dem Stolze und der Freude Oesterreichs. Am besten jedoch kennzeichnen sich die Tugenden und Verdienste unseres glor¬ reichen Herrscherhauses an den dadurch geweckten Empfindungen und Gefühlen der Uinter¬ thanen, welche heute aus dankbaren Herzen hervorquellen, um zum Trone zu steigen, heute in der mannigfachsten und grossartigsten Weise ihren Ausdruck finden. So nehmt denn, geliebtes Herrscherpaar, den (lückwunsch der hier versammelten Jugend huldvoll entgegen, der, wenn er auch von einer kleinen Schaar und ferne von dem erhabenen Glanze der Majestät zum Ausdruck kommt, doch nicht mit weniger Begei¬ sterung, mit weniger Herzlichkeit entgegengebracht wird. Die schlichten Worte, mittelst welcher das überquellende Herz seinen Empfindungen Sprache verleiht, sie mögen Euch in ihrem schmucklosen, natürlichen Gewande ein Beweis sein, dass unauslöschliche Dankbarkeit, hingebende Liebe und Treue die Grundfesten der Anhänglichkeit sind, welche uns heissen, wenn einst Euer Ruf erschallt, mit vereinten Kraften und mit Gut und Blut, Euch das zu vergelten, was Ihr in so erspriesslicher Weise vollführt habt zum Heil und Segen Eurer Völker, welche heute mit dankbaren Ilerzen in die Weise ausbrechen: Heil Franz Joseph, Heil Elisen, Segen Habsburgs ganzem Haus!
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