richt. Zu Anfang des Jahrhunderts kamen die Lehrer darauf, um wieviel mehr sie aus den Kindern herausholen konnten, wenn sie den seelentötenden Drill der bisherigen Methoden des Zeichenunterrichts fallen ließen - es war die Zeit, in der diese Methoden erstmalig durch die Experimente des „Art nouveau" in Frage gestellt worden waren. Die Pioniere dieser befreienden Schulreform, vor allem Franz Cizek (1865-1946) in Wien ,forderten, daß man das Talent der Kinder sich frei entfalten lassen solle, bis sie selbst soweit wären, künstlerische Maßstäbe zu verstehen. Seine Resultate erregten Aufsehen. Erwachsene Künstler betrachteten voll Neid die Originalität und den Charme der kindlichen Schöpfungen. Gleichzeitig erkannten die Psychologen den pädagogischen Wert des Vergnügens, das den Kindern das „Herumpatzen" mit Farbe und Plastilin bereitet. Die expressionistische Lehre, daß das Wesen der Kunst im Ausdruck liege, wurde vielen durch die Schule vermittelt. Wir sprechen heute ganz selbstverständlich von der „Kunst der Kinder", ohne auch nur zu bemerken, daß dies dem Kunstbegriff aller früheren Generationen widerspricht. Die meisten Mitglieder des heutigen Kunstpublikums haben aus dieser Auffassung eine neue Toleranz gewonnen. Manche, die dabei die Befriedigung entdeckten , die aus freier schöpferischer Tätigkeit entspringt, malten in ihrer Freizeit weiter. Selbstverständlich ist die zunehmende Zahl von Menschen, die beim Malen Erholung finden, nicht ohne Einflußauf die Kunst geblieben. Einerseits muß natürlich c;las gesteigerte Interesse von den Künstlern begrüßt werden, andererseits aber erzeugt diese Situation in vielen von ihnen ein starkes Bedürfnis, den Abstand zu betonen, der zwischen der Farbbehandlung eines berufsmäßigen Künstlers und der eines Dilettanten besteht. Der Kult der vollendeten Pinselführung mag hierin eine seiner Wurzeln haben. 7. Hier fügt sich zwanglos der siebente Faktor an, der aber auch an erster Stelle hätte stehen können: die Ausbreitung der Photographie und ihre Rivalität zu der Malerei. Natürlich hat die Kunst zu keiner Zeit einzig und allein die Nachahmung der Natur zum Gegenstand gehabt. Dennoch standen die Künstler immer in Verbindung mit der Natur. Ihre Wiedergabe war eine Aufgabe, mit der sich die besten Geister viele Jahrhunderte lang beschäftigt hatten; andererseits lag darin auch für die Kritik wenigstens ein erster Anhaltspunkt. Zwar existierte die Photographie schon seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts, aber die heutige Situation läßt sich mit jenen Anfängen nicht vergleichen. Heutzutage gibt es überall Millionen von Photographen, und die Zahl der Farbphotos, die in jeder Urlaubssaison geknipst werden, geht vermutlich in die Billionen. Es ist unausbleiblich, daß darunter auch einige wirklich geglückte Aufnahmen sein werden, die ebenso schön und stimmungsvoll sind wie so manches mittelmäßige Landschaftsbild, oder so ausdrucksvoll und lebendig wie ein gemaltes Porträt. Man kann sich kaum wundern, daß das Wort ,,photographisch" von Künstlern und Lehrern der Kunstbetrachtung nur verächtlich gebraucht wird. Die Gründe, mit der sie manchmal ihre Ablehnung rechtfertigen , sind oft abwegig , aber ihr Argument, die Kunst müsse Alternativen zur Naturtreue schaffen, leuchtet einem ein. 8. Hier dürfen wir aber das achte Element nicht übergehen: Daß es nämlich in vielen Ländern der Erde verboten ist, nach solchen Alternativen zu suchen. Der Kommunismus sowjetischer Prägung betrachtet alle experimentellen Richtungen der Kunst als Verfallssymptome der kapitalistischen Gesellschaft. Das Symptom einer gesunden kommunistischen Gesellschaft ist dagegen eine Kunst, die die produktive Arbeit verherrlicht, indem sie fröhliche Traktoristen und stämmige Bergarbeiter malt. Die Künste wurden in die politsche Arena hineingezogen und als Waffen im kalten Krieg ei ngesetzt. Vielleicht hätte man im Westen die extremsten Rebellen nicht ganz so eifrig von oben gefördert, wenn man nicht die Gelegenheit hätte nützen wollen, der Welt den großen Gegensatz zwischen einer freien Gesellschaft und einer Diktatur vor Augen zu führen. 9. Wer immer das Schauspiel der Gegenwart mit Verständnis und Sympathie betrachtet, wird zugeben, daß auch die Sucht des Publikums nach Neuem und die Geschwindigkeit, mit der es jeder flüchtigen Modelaune entgegenkommt, den Reiz unseres Lebens erhöhen. Wenn wir uns manchmal versucht 49 ----------------------
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