IJI Künstler veranlaßt hat, alles bloß Verstandesmäßige und Mechanische abzulehnen und sich irgendeiner mystischen Lehre zu verschreiben, die den Wert der Spontaneität und der Individualität betont. Man kann sehr gut verstehen, daß sich die Menschen heute von Mechanisierung und Automatisierung bedroht fühlen, von Überorganisation, Standardisierung und dem Zwang zu einer öden Gleichförmigkeit. Die Kunst erscheint als der einzige Zufluchtsort, wo Eigenwilligkeit und persönliche Eigenart nicht nur·toleriert, sondern sogar geschätzt werden. $eil dem 19. Jahrhundert fanden viele Künstler, die ihrer Uberzeugung nach einen berechtigten Kampf gegen Konvention und Philistertum führten , ein gewisses Vergnügen daran, die Bürger zu schockieren. Bald fanden die Bürger Gefallen an diesem Spiel und verstanden es, eine Vorurteilslosigkeit zur Schau zu stellen, die durch kaum etwas zu verblüffen war. So kam es zu einer Art jovialer · Annäherung zwischen Künstlern und Technokraten. Vorausgesetzt, der Künstler hielt sich an die Erwartungen des Publikums. · 4. Diesen Erwartungen liegen gewisse psychologische Annahmen über Kunst und Künstlertum zugrunde. Da sind vor allem die Idee der Kunst als freier Ausdruck der Persönlichkeit, die auf die Romantik zurückgeht und außerdem der große Einfluß der Psychoanalyse, wobei der Zusammenhang zwischen Kunst und Seelenleiden oft wörtlicher genommen vvurde, als Freud es beabsichtigte. Im Zusammenhang mit der Uberzeugung, die immer mehr an Boden gewann, die Kunst sei der Ausdruck des Zeitalters, konnte es so zu der Ansicht kommen, der Künstler habe nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, sich aller H~mmungen zu entledigen. Wenn der Anblick dessen, was dabei herauskommt, nicht gerade hübsch sei, so komme das einfach daher, daß die Zeit, in der wir lebten,es auch nicht sei. Worauf es ankomme,sei, äen harten Tatsachen mutig ins Auge zu sehen, denn nur so könnten wir hoffen, die Ängste und Nöte unserer Zeit zu erkennen. Der entgegengesetzte Gedanke, Kunst allein könne uns in dieser unvollkommenen Welt Vollkommenheit wenigstens ahnen lassen, wird als Flucht vor der Realität verworfen. Die moderne Psychologie hat sowohl Künstler wie Publikum ermutigt, Bereiche der menschlichen Psyche zu erforschen, die man früher als abstoßend oder tabu betrachtet hätte. Um sich nicht nachsagen zu lassen, sie könnten der Realität nicht ins Gesicht sehen, wenden heute viele ihre Augen nicht von Dingen ab, deren Anblick frühere Generationen gescheut hätten. 5. Die Malerei hat sich für radikale Neuerungen am empfänglichsten erwiesen. Man braucht keinen Pinsel, wenn man die Farbe lieber direkt auf die Leinwand gießt; und ein NeoDadaist kann einen alten Fetzen oder einen Autobestandteil an eine Ausstellung einsenden, in der Zuversicht, die Veranstalter würden es nicht wagen, sein Kunstwerk zurückzuweisen. Tun sie es doch, so hat er erst recht seinen Spaß. Allerdings kommt auch der bildende Künstler nicht ohne einen Mittler aus: Er braucht einen Kunsthändler, der seine Werke zeigt und verkauft, und das ist natürlich ein ernstes Problem. Doch beeinflussen alle bisher genannten Faktoren den Händler vermutlich noch mehr als den Künstler oder Kritiker. Denn für ihn ist es ja am allerwichtigsten, das Bc;1rometer der Veränderungen im Auge zu behalten, Trends rechtzeitig zu erkennen und nach neuen Talenten Ausschau zu halten. Wenn er aufs richtige Pferd setzt, kann er nicht nur sein Vermögen machen, sondern auch seine Kunden zu Dank verpflichten. Konservative Kritiker früherer Generationen haben oft ärgerlich behauptet, die ganze moderne Kunst sei eine „Mache" gerissener Kunsthändler. Aber Händler sind seit Menschengedenken hauptsächlich dem Profit nachgegangen. Sie beherrschen den Markt nicht - der Markt beherrscht sie. Gewiß mag hie und da ein Händler, der eine besonders gute Nase für die zukünftige Entwicklung des Marktes hatte, so viel Einflußund Prestige errungen haben, daß er über Erfolg und Mißerfolg von Künstlern entscheiden konnte. Aber Händler verursachen die Kunstströmungen genau so wenig wie Windmühlen den Wind. 6. Mit Lehrern steht die Sache vermutlich anders. Der Kunstunterricht ist das sechste Element in der heutigen Situation, und zwar ein ungemein wichtiges. Die Reformbewegung in der Kindererziehung fand ihren ersten Ausdruck im Kunstunter- - - --------- ----------- 48 ------- ---------------
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