dieser Vorstellung hat die Kunstgeschichte einen nicht unbedeutenden Anteil. Haben wir nicht alle irgendwie das Gefühl, daß ein griechischer Tempel, ein römisches Theater, eine gotische Kathedrale oder ein moderner Wolkenkratzer eine jeweils andere Geisteshaltung „ausdrückt" und eine andere Art von Gesellschaft symbolisiert? Wenn man damit bloß sagen will, daß die Griechen das Rockefeller Center in New York nicht hätten bauen können und die Kathedrale von NotreDame nicht hätten bauen wollen, so ist gewiß viel Wahres daran. Aber allzuoft verbindet sich damit die Idee, daß der Geist der Antike sich im Parthenon kristallisieren mußte, daß die Künstler des Mittelalters nicht anders konnten, als Kathedralen zu errichten, und daß es unsere Bestimmung ist, Wolkenkratzer zu bauen. Von diesem Standpunkt aus, den ich nicht teile, wäre es selbstverständlich unmöglich, die Kunst der eigenen Zeit abzulehnen. Es genügte dann, daß für einen Stil oder ein Experiment der Anspruch erhoben wird, sie seien zeitgenössisch, um in den Kritikern das Gefühl zu erwecken, es sei ihre Pflicht, die Sache zu verstehen und für sie einzutreten. Diese Geschichtsauffassung hat den Kritikern den Mut zur Kritik genommen und sie zu bloßen Chronisten gemacht. Zur Rechtfertigung dieser Einstellung weisen sie auf die notorische Unfähigkeit früherer Kritiker hin, die Bedeutung neu entstehender Stile zu erkennen und richtig einzuschätzen. Die Erinnerung an die verständnislose Feindseligkeit, mit der die Kritik einst tatsächlich die Impressionisten behandelte, deren Werke später so berühmt wurden und so hohe Preise erzielten, war wesentlich schuld daran, daß in Hinkunft die Kritiker das Vertrauen in ihr Urteil einbüßten. Die Legende kam auf, daß alle großen Künstler von ihrer Zeit abgelehnt und verlacht worden seien, und daher kommt das „lobenswerte" Bestreben des Publikums, heute überhaupt nichts mehr abzulehnen oder zu verlachen. Die Idee, daß die Künstler der Vortrupp der Zukunft sind und daß wir, nicht sie, komisch dastehen werden, wenn wir es an der gebührenden Wertschätzung fehlen lassen, hat heute beim Publikum, oder doch bei einem großen und einflußreichen Teil des Publikums, festen Fuß gefaßt. 2. Das veränderte Kunstverhältnis hat eine Parallele in der Entwicklung von Wissenschaft und Technik. Jeder weiß heute, 47 daß die Theorien der modernen Naturwissenschaft oft äußerst unverständlich erscheinen, sich aber trotzdem bewähren. Das drastische Beispiel, von dem die meisten Menschen gehört haben, ist wohl Einsteins Relativitätstheorie, die allen vernünftigen Vorstellungen von Zeit und Raum zu widersprechen schien und die doch zu jener Gleichung zwischen Masse und Energie führte, die ihrerseits der Erfindung der Atombombe zugrunde lag. Es besteht kein Zweifel, daß Macht und Prestige der Naturwissenschaften sowohl Künstler wie Kritiker ungeheuer beeindruckten. Sowohl das berechtigte Vertrauen zum Experimentieren als auch eine weniger berechtigte Bereitschaft, alles Unverständliche gläubig hinzunehmen, gehören hierher. In der Kunst liegen nämlich die Dinge leider sehr anders als in der Wissenschaft. Denn während die Wissenschaft über rationale Methoden verfügt, Sinn und Unsinn zu unterscheiden, fehlen dem Kunstkritiker solche eindeutigen Kriterien. Gleichzeitig hat er das Gefühl, er könne es sich nicht leisten abzuwarten, ob sich ein Experiment als sinnvoll herausstellen wird, denn damit läuft er Gefahr, ins Hintertreffen zu geraten. In früheren Zeiien hätte das den Kritiker nicht allzuviel bekümmert, aber heute gilt uneingeschränkt die Überzeugung, daß alle, die an veralteten Ideen festhalten und sich weigern, mit der Zeit zu gehen, rettungslos unt(;;r die Räder kommen. In der Wirtschaft, so sagt man uns die ganze Zeit, heißt die Parole: Schritthalten oder Untergang. Wir müssen allem Neuen gegenüber aufgeschlossen sein, vor allem neuen Methoden eine Chance geben. Kein industrieller kann es sich heute erlauben, als „konservativ" bezeichnet zu werden. Er muß nicht nur mit der Zeit gehen, er muß diese Haltung auch proklamieren, und am besten tut er das, indem er im Konferenzzimmer moderne Bilder aufhängt, je revolutionärer, desto besser. 3. Der nun folgende Aspekt scheint auf den ersten Blick dem bisher Gesagten zu widersprechen. Die Kunst will nämlich nicht nur mit Wissenschaft und Technik Schritt halten, sie will uns auch die Möglichkeit geben, diesen tyrannischen Ungeheuern zu entkommen. Hier liegt der Grund, der so viele
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