mJ MODERNE KUNST - KRITISCH BETRACHTET Genaugenommen gibt es „die Kunst" gar nicht. Es gibt nur Künstler. Früher waren das Leute, die mit farbigem Lehm die rohen Umrisse eines Büffels auf Höhlenwände malten - heute kauft man Farben und entwirft Plakate für Fleischextrakt; dazwischen ereignete sich noch manches andere. Es schadet natürlich nichts, wenn alle diese Tätigkeiten Kunst genannt werden, man darf nur nicht vergessen, daß dieses Wort in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten etwas ganz UntE)rschiedliches bedeuten kann, und daß „die Kunst" im Grunde gar nicht existiert. Alles Nachdenken über das „Wesen der Kunst" hat den Künstlern wahrscheinlich mehr geschadet als genützt, und jede Kritik am künstlerischen Wert von Arbeiten hat meist katastrophale oder zumindest peinliche Folgen. Ich glaube nicht, daß es gar so wichtig ist zu definieren, warum ein Gemälde oder eine Statue kunstvoll ist, die Wichtigkeit liegt eher im Anschauen und Verstehen des Werkes, der Farben, des Aufbaus, ohne Rücksicht auf trockene Interpretation. Läßt sich die Geschichte der Kunst bis in die unmittelbare Gegenwart fortführen, wie es etwa bei der Geschichte der Technik möglich ist? Kaum - denn man kann zwar die letzten Modeströmungen beschreiben und diskutieren, und ebenso die Künstler, die im Augenblick alsführend gelten, aber um zu wissen, ob diese Menschen wirklich den künftigen·Gang der Entwicklung bestimmen werden, müßte man ein Prophet sein; fest steht aber, daß das Charakteristische an der Kunst des 20. Jahrhunderts" die Freiheit ist, mit Einfällen und Medien aller Art zu experimentieren. Heute liegt das Problem eher darin, daß Presse wie Publikum fast jedes Experiment künstlerisch akzeptabel finden. 1914 betrachtete die Öffentlichkeit den nachimpressionistischen Maler, den man ziemlich wahllos als Kubisten, Futu risten oder Modernisten bezeichnete als eine Art Narren oder als Scharlatan. Diejenigen Maler ~nd Bildhauer, die vom Publikum bewundert wurden, widersetzten sich allen radikalen neuen Ideen. „Heute kann man fast behaupten, daß sich die Situation umgekehrt hat. Presse, Rundfunk,"Film und Werbung stehen offenbar auf der Seite derer, die man mit dem etwas irreführenden Ausdruck „nonconformist artists", Oppositionskünstler, bezeichnen könnte. Das Publikum , oder zumindest ein großer und einflußreicher Teil , toleriert anscheinend al les, und es gibt auf dem Gebiet der bildenden Kunst keine Form von bildnerischem Exzeß, die die Kritik zum Protest oder auch nur zum Wimpernzucken veranlassen könnte" - so zumindest Ouent(n Bell in Jhe Crisis in the Humanities". ·1n den USA verglich der Vorkämpfer der modernen amerikanischen Malerei, Harold Rosenberg, von dem der Ausdruck „Action Painting" stammt, die Reaktion auf die erste Avantgarde-Ausstellung in New York des Jahres 1913 mit der des Publikums 50 Jahre später: ,, . . Das AvantgardePublikum von heute ist einfach allem aufgeschlossen ... ". Nach Ansicht Rosenbergs liegt der Grund für diese Veränderung vorwiegend in der Offentlichkeitsarbeit der Kunsthistoriker; meiner Meinung nach gibt es noch genügend andere Faktoren, die zur Anderung des Kunstverständnisses in der ,,modernen Gesellschaft" beigetragen haben: 1. Der erste dieser Faktoren hängt sicherlich mit der allgemeinen Vorstellung von Fortschritt und Entwicklung zusammen. Wir sind gewohnt, die Geschichte der Menschheit als eine Reihe aufeinanderfolgender Epochen zu betrachten, die zu unserer Zeit hinführen und sich in die Zukunft fortsetzen. Wir unterscheiden eine Steinzeit und eine Eisenzeit und später ein Zeitalter des Feudalismus und ein Maschinenzeitalter. Heute betrachten wir wahrscheinlich diese Entwicklung nicht mehr so optimistisch wie früher und sind uns darüber klar, daß die Veränderungen, die uns ins Zeitalter der Raumschiffahrt führten, sowohl Gewinn wie Verlust mit sich gebracht haben. Wie dem. auch sei, seit dem 19. Jahrhundert besteht die allgemeine Uberzeugung,daß der Gang der Geschichte etwas Unaufhaltsames ist. Man glaubt deshalb, daß auch die Kunst, genauso wie Technik und Wirtschaft, von diesen irreversiblen Kräften vorangetrieben wird. Ja, man könnte die Kunst sogar als den wichtigsten „Ausdruck des Zeitalters" ansehen. An der Verbreitung - - -------- -------- - 46 --- ----- ------- ----
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