In der heißen Erde die Zehen, die streichelnde Hand im Haar. Dauer: 10 Minuten Dauer der Erinnerung: 1 Leben. Ich erinnere mich eines Morgens, an dem ich auf einem Baume eine Schmetterlingspuppe entdeckt hatte. Der Schmetterling hatte gerade die Hülle gesprengt und schickte sich an, auszuschlüpfen. Ich wartete lange, ungeduldig, denn ich hatte es eilig. Ich hauchte den Schmetterling an, und das Wunder begann sich vor meinen Augen in einem rascheren Ablauf als natürlich zu entfalten. Die Hülle öffnete sich ganz, der Schmetterling kroch heraus. Aber nie werde ich mein Entsetzen vergessen: seine Flügel waren noch gekrümmt und zerknittert. Der kleine Körper zitterte und suchte sie zu spannen, aber es war unmöglich. Auch ich versuchte, ihm mit meinem Atem zu helfen, doch umsonst. Ein allmähliches Reifen war nötig, die Flügel hätten sich langsam in der Sonne entfalten müssen, jetzt war es zu spät. Mein Atem hatte den Schmetterling gezwungen, zu früh auszukriechen, ein Siebenmonatskind. Er zappelte verzweifelt und starb nach einigen Sekunden auf meiner flachen Hand. Diese kleine Leiche, glaube ich, ist die schwerste Last, die mein Gewissen bedrückt. Heute begreife ich erst richtig, daß es eine Todsünde ist, die ewigen Gesetze zu vergewaltigen. Wir haben die Pflicht, uns nicht zu beeilen, nicht ungeduldig zu werden und dem ewigen Rhythmus der Natur mit Vertrauen zu folgen. Ich setzte mich auf einen Stein, um mich in aller Ruhe mit diesem Neujahrsgedanken vertraut zu machen. Achl sagte ich mir, käme doch mein Leben im neuen Jahr ohne diese hysterische Ungeduld ausl Könnte doch dieser kleine Schmetterling, den ich in meiner Eile und Ungeduld umbrachte, immer vo.r mir herflattern, um mir den richtigen Weg zu zeigen! Aus „Alexis Sorbas" von Nikos Kazantzakis MEDITATION Voller Bauch meditiert nicht gern. Völker, für die Zeit keine Bedeutung hat. Führen sie das richtige Leben? Kosten sie jeden Augenblick ihres Daseins aus? Ruhiger werden. Sich treiben lassen. Die Verdauungsgeräusche verbinden mich mit der Wirklichkeit. Es gibt keine zeitlose Welt. Kindheit, Jugend, Erwachsensein , Alter, Zeit zu sterben. Wenn du einmal älter bist . Es ist so kalt in diesem Raum. Kinder scheinen immer Zeit zu haben. Warten auf wichtigere Dinge, die nie kommen. Hoffen auf bessere Zeiten. Wilde Kinder oder gehetzte Sklaven? Der Atem der anderen. Totschlag Zeit-Totschlag. Zeit. Ich kann in sie eintauchen, sie lieben, sie hassen, sie benützen, sie genießen, sie verdammen. Ich kann sie nicht begreifen. Die Zeit ist mein Gegner. Kampf bis zum letzten. Ein Leben lang. Trotzdem verdränge ich sie. Jede Sekunde weniger Leben. Sie ist unbesiegbar. Sie ist nicht etwas, keine Person, sie ist einfach da. Sie wird jeden Tag größer, älter, mächtiger Ihr Leben verkürzt sich nicht. Der Schnee vor dem Fenster blendet mich. Martina Fischlmayr / 70 Erwin Giedenbacher / 60 Petra Schwarz/ 70 - - -------------------- 39 ----------------------
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