13. Jahresbericht des Bundesgymnasiums Steyr 1985/86

„Eine Handvoll Licht fiel hell auf das kleine schlafende Gesicht" (Wolfgang Borchert) Jeder Mensch lebt im Spannungsfeld von Freiheit und Ordnung, von dem, was ihm vorschwebt, was er für richtig hält, was er entwickelt, und dem, was vorgegeben ist, was ihm Grenzen setzt. Er muß auf eine Umwelt reagieren und dabei seine eigene Kraft erproben, indem er lernt, sich in eine Gemeinschaft einzubringen, in ihr mitzuwirken und sie mitzugestalten . Seinen eigenen Weg finden, heißt, einen Ausgleich zu suchen zwischen dem, was von einem Menschen gefordert wird, und dem, was er selber beitragen kann an besserer Einsicht, an eigenen Ideen, an der Ausstrahlung der eigenen Person. Das aber setzt voraus, daß er den anderen genauso ernst nimmt wie sich selbst, daß er ihn und seine Beweggründe zu verstehen sucht. Wer diese Sensibilität dem anderen gegenüber nicht spürt, oder wer nicht gelernt hat, sie zu entwickeln, läuft Gefahr, ,,einseitig" zu denken und zu entscheiden. Es ist ein Wortspiel: ,,Wild" erscheint die Haltung des wilden Mannes, der kompromißlos seinen eigenen Willen durchsetzt, der (seine) Ordnung schafft, ,,wild" erscheinen aber auch die, die sich um keine Ordnung kümmern , weil sie - wieder - nur sich selbst anerkennen. Wiederum stehen „Ordnung" und „Freiheit" einander gegenüber. Die Schule muß dem jungen Menschen einen Weg vorgeben, der es ihm ermöglicht, sich selbst zu finden, zu einer eigenen Persönlichkeit zu werden. Wenn der Schüler in die 1. Klasse Gymnasium eintritt, ist er wohl schon durch seine Familie, seine Umwelt, durch seine Erfahrung und seine Erwartung vorgeprägt, er ist aber doch noch „wild" in dem Sinne, daß er sich erst entwickeln muß, daß sein Weg noch vor ihm liegt. Er soll aufnahmefähig sein für das Wissen, das die Schule vermittelt, aber auch für die Werte, die seine Persönlichkeit prägen. Dadurch, daß er sich mit dem Wissensstoff, mit der Art der Wissensvermittlung durch die Lehrer und mit der Gemeinschaft auseinandersetzt, fördert er seine Entwicklung. Kritische Auseinandersetzung muß verbunden bleiben mit dem natürlichen Gefühl dafür, daß wir alle Menschen sind 11 mit dem Recht auf unsere eigene Meinung und unsere eigene Entwicklung. Keine Gemeinschaft kommt ohne die Achtung des Mitmenschen aus. Das Gymnasium ist für den Schüler acht Jahre lang das Tummelfeld in der Entwicklung von der „natürlichen Wildheit" des jungen Menschen bis zum Erlernen eines selbständigen, verantwortungsvollen Handelns. Der Weg der Selbstentfaltung wird zur Geschichte seines Lebens. Das Leben kennt keine fertigen Lösungen. Und es ist leichter, davon zu sprechen, daß ein Ausgleich zu finden sei zwischen dem was ich mir wünsche, und der Realität, der ich mich geg~nüber sehe, als den Konflikt in Wirklichkeit zu meistern. Es ist für mich als Deutschlehrer verlockend, solche entscheidende Situationen in der Geschichte von Menschen in literarischen Texten aufzuspüren und sie den Schülern im Unterricht in Lektüre, Texterschließung und Gespräch miterleben zu lassen. Oftmals steht am Ende die Frage nach der Verantwortlichkeit als Verantwortung sich selbst und den anderen, der Gemeinschaft gegenüber. Wie jungen Menschen diese Verantwortung aufgetragen wird , wil l ich an drei Kurzgeschichten deutlich machen. Immer noch fasziniert die Kurzgeschichte von Wolfgang Borchert „ Die drei dunklen Könige'; die nichts an Eindringlichkeit verloren hat, auch wenn sie heute schon einer behutsamen Aufbereitung des zeitgeschichtlichen Hintergrunds bedarf: Sie spielt im Jahr 1945, und unsere Schüler sind 25-30 Jahre nach Kriegsende geboren! ,,Die drei dunklen Könige" führen uns in eine Welt voller Resignation, des Gefühls, nichts tun zu können gegen die unabänderliche Zerstörung, die zermürbende Not. Es gibt so viele Erfahrungen, die der Mensch nicht verkraften kann. Unvermittelt beginnt die Kurzgeschichte: ,,Er tappte durch die dunkle Vorstadt. Die Häuser standen abgebrochen gegen den Himmel. Der Mond fehlte, und das Pflaster war erschrok-

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