12. Jahresbericht des Bundesgymnasiums Steyr 1984/85

UI LATEIN - seine zunehmende Bedeutung Nicht nur von geplagten Schülern, sondern auch von man- chen Eltern wird öfters die - sicher berechtigte - Frage gestellt, wozu das Erlernen der lateinischen Sprache heute noch gut sei. Diese Frage hängt eng mit der Situation und dem Stellenwert der Allgemeinbildung zusammen, die von fachlicher Ausbil- dung und Spezialwissen zu trennen ist. Ich darf hier aus einer Anzeige der BMW AG (Die ZEIT, 26. 4. 85) zitieren ICH WEISS, DASS ICH NICHTS WEISS Dieser Satz des Sokrates gewinnt heute eine neue Bedeutung. Denn angesichts einer Wissens-Explosion wie noch nie ist fachli- ches Know-how schon in wenigen Jahren immer wieder veraltet. Das wissenschaftlich-technische Hochschulwissen eines Berufs- anfängers gilt z. B. schon nach drei Jahren als Nostalgie. Der einzige Weg, diese Situation zu bewältigen, ist „lebenslanges Lernen''. Aber nicht nur technisches Wissen ist schnell veraltet , auch auf vielen anderen Gebieten ist eine Allgemeinbi ldung im Sin- ne eines umfassenden Bescheidwissens heute nicht mehr möglich. Die Schule jedenfalls, der man ohnedies schon ein Ubermaß an Stoff-Fülle zumutet, ist hier überfordert. Aus diesem Grund wird es immer wichtiger werden , jene Fähigkei - ten zu fördern, die auch das Arbeiten und Lernen in anderen Bereichen erleichtern. Wie wir noch sehen werden, liegt hierin eine wesentliche Aufgabe des Lateinunterrichts. Wir könnten hier auch von Umweg-Rentabilität oder von einer Transfer- Leistung sprechen, d. h., daß die Auswirkungen nicht unbe- dingt sofort, sondern oft erst später und auf anderen Gebieten sichtbar und spürbar werden. Wirft man einen Blick in Management-Fachschriften der letz- ten Jahre, so wird ein Trend immer deutlicher erkennbar: Füh- rungskräfte sollten keine reinen Technokraten sein, die nur den eigenen Fachbereich verstehen und beurteilen können. Vielmehr wird von ihnen Interesse und Verständnisfürg rößere Zusammenhänge erwartet. Es geht um die „Wiederfindung des rechten Maßstabes im Verhältnis von Mensch und Tech- nik" (Management - Wissen Nr. 6 / 1983, S. 20). Das Gymna- sium mit seinem Angebot an sprach lichen , naturwissen- schaftlich en und musischen Fächern (plus Freigegenstände und Neigungsgruppen) kommt diesem Anspruch sehr entgegen. Der Stellenwert jedes einzelnen Faches ist zwar im Lauf der Zeit manchen Schwankungen unterworfen, doch trifft die Kri- tik - oft kurzsichtig und daher auch erfolgreich - meist nur den Lateinunterricht. Ich möchte daher kurz einige Argumente anführen, die den Aufwand des Erlernens der lateinischen Sprache rechtferti- gen und auf die künftige Bedeutung des Latei nunterrichts hin- weisen sol len. In einer organisatorisch und technisch hoch- stehenden Welt könnte ihm nämlich aufgrund seiner Zielsetzungen ein wesentl ich höherer Stellenwert zukommen als bisher. Diese Zielsetzungen betreffen vor allem jene Bereiche im Dasein des Menschen, durch die er sich von anderen Lebe- wesen unterscheidet und die auch für seine Persönlichkeits- bildung entscheidend sind: SPRACHE - DENKEN - KULTUR 1. Bereich: SPRACHE • Latein erleichtert uns das Erlernen der romanischen Spra- chen, aber auch des englischen Wortschatzes (über 50 Prozent sind lateinischen Ursprungs!). • Wir können viele Fremdwörter und wissenschaftliche Begriffe besser verstehen und richtig anwenden. • Mensch und Sprache sind untrennbar miteinander ver- bunden . Es ist genauso wichtig, die „ Bestandteile" einer Sprache, ihren Aufbau und ihre Gesetzmäßigkeiten (= Sprachstruktur) zu kennen,wie z. B. Kenntnisse vom Aufbau eines Atoms, eines Moleküls, einer Ze ll e usw. zu besitzen. • Im Vordergrund steht für uns nicht die SPRECHfähigkeit, sondern die SPRACHreflexion, das Nachdenken über die Sprache und ihre Erscheinungsformen. Um aber über ---------------------- 59 ----------------------

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