11. Jahresbericht des Bundesgymnasiums Steyr 1983/84

Das Meer und der Berg Es begab sich zu einer Zeit , als das Meer noch die Macht hatte, ein ganzes Volk zu vernichten , und ebenso ein arm- seliges Fischerdorf zu einer blühenden Handelsstadt zu erheben. Um seine Gunst zu gewinnen , brachten die Men- schen ihm Opfergaben dar , aber oft suchte es sich die Opfer auch selbst aus . Man hätte meinen können es wäre damals sehr glücklich gewesen , aber dies war ~icht der Fall. Das Meer hatte nämlich ein Problem das sich ihm in Form eines Berges darstellte. Es war in ~inem Berg ver- liebt. Natürlich war es nicht irgendein Berg. Das Meer hatte schon an vielen Küsten Berge gesehen , und nie hatte es sie weiter beachtet. Aber dieser Berg war etwas Besonderes. Er war der Mächtigste, der Höchste und der Schönste, und das Meer fühlte, daß dieser Berg ihm an Kraft und Aus- dau_er ebenbürtig , wenn nicht sogar überlegen war. Oft lag es 1n stiller Bewunderung vor ihm und betrachtete seine schroffen Felsen und seinen ewig schneebedeckten Gipfel , der im Sonnenlicht wie eine strahlende Krone wirkte. Wie gerne hätte das Meer sanft seine Felsen umschmei- chelt, und wie gerne hätte es jedes Staubkörnchen von ihm abgewaschen. Das Meer war zwar mächtig, aber es war nicht mächtig genug, sich selbst diesen einzig wirk lichen Wunsch zu erfü llen . Der Mond, der bekanntlich der Freund al ler Liebenden ist, brachte ihn täglich einige Meter näher an den Berg, aber eben dieser Berg holte ihn auch täglich wieder zurück. Jedesmal hoffte es, ihn diesmal zu errei- chen , und jedesmal wünschte es , daß es diesmal bis zu sei- nem Gipfel gelangen würde oder wenigstens bis zum Fuße des Berges. Aber niemals erfüllte sich ihm dieser Wunsch. Der Berg galt als der Unbezwingbare. Noch kein Unwetter konnte ihm etwas anhaben, noch kein Mensch hatte den Fuß auf seinen Gipfel gesetzt, und viele, die es gewagt haben, es zu versuchen, haben dabei ihr Leben ver loren. Der Berg bemerkte dies kaum. Er erfü llte seine Aufgabe, die darin bestand, da zu sein, und er war glücklich dabei. Er liebte sein ruhiges , beschauliches Leben und niemand könnte von ihm behaupten , daß er einmal d~n Boden unter den Füssen ver loren hätte. Sehr bald bemerkte er, wie sehr ihn das Meer verehrte aber er wurde von vielen bewundert, und so machte er sich nichts daraus. Aber ihm gefiel die Ausdauer und die Hart- näckigkeit des Meeres, und er schenkte ihm bald größere Aufmerksamkeit als bisher. Der Berg beobachtete das Meer , wie es im Sturm seine weißschäumenden Wellen an die Brandung donnern ließ, und er sah es, wie es bei Sonnenuntergang wie reines Gold leuchtete. Als ihm ein- mal ein Wolkenschleier die Aussicht auf das Meer versperr- te, bemerkte er, wie sehr es ihm fehlte . Der Berg hatte das Meer liebgewonnen , und er wünschte- sich nichts so sehr, als auch Meer zu se in , und nichts erschien ihm erstrebenswerter, als mit ihm durch die Welt zu ziehen . Das Meer wünschte sich nichts so sehr, als ein Berg zu sein und neben ihm als ein Monument der Ewigkeit zu stehen. Aber beiden wurden ihre Wünsche nur in ihren Träumen erfüllt. 87 --------------------

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2