8. Jahresbericht des Bundesgymnasiums Steyr 1980/81
LITERATUR UND LEBEN Am Beispiel der Bühnenspielgruppe des BG-Steyr Die monatelange Beschäftigung mit Max Frischs „ Andorra" bei der Erarbeitung brachte es allein schon mit sich, daß wir von Mal zu Mal wie- der mit der Problematik dieses Stücks gegen Vorurteil und Mitläufertum konfrontiert wurden. Probe für Probe und Gespräch für Gespräch drangen wir tiefer in seine Thematik ein mit all ihren Schattierungen. Wir beschäf- tigten uns lernend, aber auch kreativ mit Literatur, die normalerweise im Unterricht nur schnell durchgezogen wird und mit der ich mich persönlich in meiner Freizeit zu wenig in konzentrierter und aufnahmebereiter Ver- fassung auseinandersetzen kann. Neben der Erwartung , neue Leute mit ähnlichen Interessen kennenzulernen , war dieser intensivere Kontakt mit Literatur mein Hauptgrund, mich zum Freifach Bühnenspiel zu melden. Doch zwei andere, tiefere Zugänge eröffneten sich mir noch, mit de- nen ich am Anfang nicht gerechnet hatte, nicht rechnen konnte. Im Einler- nen und vor allem im Interp retieren meiner Rolle - der des „ Andri " - begann ich immer mehr gefühlsmäßig zu verstehen, was ich mir beim Durchlesen rational nicht erklären konnte. Am besten gelang es mir wäh- rend der drei Aufführungen , mich in Handeln und Fühlen der Figur hinein- zuversetzen. isoliert von der realen Umwelt und gleichzeitig im Bewußt- sein des öffentlichen Auftritts, lebt man in dieser psychischen Anspan, nung in der Rolle auf , die Mittel wird, sich zu artikulieren. Die dritte - und wahrscheinlich bedeutendste - Annäherung an das Stück verdanken wir unseren Regisseuren : das Umlegen der „ Andor- ra"-Problematik auf das Gruppenverhalten. Ich sage „ verdanken ", obwohl es sehr oft nicht verstanden und daher nicht geschätzt wurde; häufig auch von mir, da ich, bedingt durch meine Rolle, am häufigsten damit konfrontiert war. Die Erfahrung der Alltäglichkeit der Handlung machten wir also in der Aufbauarbeit. Das heißt: die ersten Erfahrungen. Es zeigte sich uns der Weg, wie man die spezifische „ Andorra"-Handlung abstrahiert und wie man sie auf das eigene Leben umlegt. Es war ein Anfang , ein Sehen- lernen. Nun lag es bei jedem einzelnen selbst , sich den Blick dafür zu be- wahren und daraus persönliche Konsequenzen zu ziehen. Zum ersten Mal bewußt wurde mir die Parallelität von Stück und Le- ben schon in den ersten Stunden bei der Rollenverteilung . Die Rollen im Drama wurden den Schülern zugeteilt, die den jeweiligen Charakteren am ehesten entsprachen. Entsprachen? Oder zu entsprechen schienen? ,,Woher wißt ihr alle, wie der Jud ist?" Ja, woher wußten wir über das wah- re Wesen jener Bescheid, die wir so einteilten? Hatten wir uns wirklich vorher mit ihnen soweit beschäftigt, daß wir sie näher kannten? Ich für meinen Teil kann das höchstens für zwei aus unserer Gruppe sagen. Aber wir teilten einander ein, demokratisch, nach den Bildnissen, die wir uns gemacht hatten, oft nur nach dem ersten Eindruck. Gut, jeder konnte zu- stimmen, ablehnen. Aber die Meinung der Masse übt Druck aus: Mancher hätte, wenn es möglich gewesen wäre, lieber eine andere Rolle gespielt. Es handelt sich hier vor allem auch um ein organisatorisches Pro- blem. Die Rollen müssen möglichst innerhalb der ersten paar Stunden verteilt werden , um nicht das Arbeitsklima durch endlose Diskussionen 79
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2