8. Jahresbericht des Bundesgymnasiums Steyr 1980/81
Wir fahren jeden zwe iten Sonntag ins Blaue. Vater fährt. Vater fährt immer, weil Mutter nicht so viel Fahrpraxis hat wie Vater, weil Vater dau- ernd fährt. Ich habe meine kleine Schwester auf den Knien sitzen. Sie sitzt jeden zweiten Sonntag da, und Großmutter sagt , daß es ih r peinlich ist , soviel Platz zu brauchen . Sie sagt das jeden zweiten Sonntag . Und wir fahren ins Blaue. Das Blaue ist entweder in einer Konditorei in Kirchdo rf oder auf irgendeinem abgelegenen Spazierweg , den niemand kennt. Va- ter will Sonntag niemanden sehen , außer der Famili e. Darum geh t er nie zur Kirche. Und die Spazierwege sind jeden zweiten Sonntag überfüllt, weil alle Väter niemanden sehen wollen am Sonn tag. Sie freuen sich dann jedesmal sehr, wenn sie einander zufällig treffen, und lächeln höf- lich. Auch das gehört zum Erwachsense in . Ich muß es mir merken, wenn ich erwachsen we rden will. Vater lädt dann immer die Familien zu uns ein, die wir auf den abgelegenen Spazierwegen treffen , und diese laden uns immer ein , doch wir haben nie Zeit , und außerdem will Vater an einem Sonntag niemanden sehen. Die Französ ischschularbeit ist vorbei . Sie war schwer, und ich habe ein paar Fehl er. Doch da mich Polize i ni cht interess iert, macht das nicht soviel aus . Ich fühle mich leicht , jetzt, da ich den gelernten Stoff ans Schularbeitenheft losgeworden bin. Der Stoff war sehr schwer, doch jetzt fühle ich mich leicht , und ich freue mich auf meine Freundin . Vater sagt , ich muß aufpassen , daß ich nicht Vater werde, wei l das mein Leben zer- stören würde. Ist dein Leben jetzt zerstört , we il du drei Kinder hast? Nein, das ist etwas anderes. Aha. Ich bin zufrieden. Ich werde aufpassen , ich bin aufgeklärt. Als ich acht war, bekam ich als Zeugnisgeschenk ein Buch, wo alles drinsteht. Ich konnte damals schon lesen , und ich las es, obwohl das für mich keine Neuigkeiten waren. Aber ich las es und war er- staunt , wie man es von mir erwartete. Ich begann schon damals mit dem Erwachsenwerden . Und ich freue mich auf meine Freundin . Sie wohnt weit weg , und ich habe ein Foto von ihr, damit wir uns öfter sehen kön- nen. Mein Vater f rag t nie um meine Freundin, meine Mutter auch nicht , weil Vater nicht fragt. Mutter macht immer alles. was Vater mact1t . Das gehört zum Erwachsensein. Du sollst dir dein Weib zum Untertan ma- chen. Vater sagt, das steht in der Bibel. Er hat wahrscheinl ich eine andere als ich. Ich konnte es nirgends finden. Vater hat sich sein Weib nicht zum Untertan machen müssen, we il s ie das Gebot kennt und schon bei der Hochzeit Untertan war . Das war ein Jahr vor meiner Geburt, als Vaters Le- ben zerstört wurde. · Meine Freundin ist sehr hübsch . Harry sagt , s ie ist nicht hübsch. Doch er kann es nicht wissen, da er nicht me ine Augen hat. Und meine Augen sagen mir, daß s ie hübsch ist. Harry ist wahrscheinlich schon er- wachsen. Die Erwachsenen sagen oft Dinge, ohne Bescheid zu wissen . Das gehört dazu. Heute ist Sonntag. Wir fahren nicht ins Blaue. Es regnet, und Mutter macht Kaffee. Sie macht immer Kaffee, wenn es regnet am Sonntag. Heu- te haben wir Gäste. Mein Onkel und meine Tante - wie groß ich doch geworden bin - mit ihren zwei Kindern . Un ser Tisch ist sehr klein , a lso essen zuerst die Erwachsenen. Ich werde auch zuerst essen, wenn ich -er- wachsen bin. Im Wohnzimmer haben alle Pl atz. Vater erklärt genau die Funktion seiner Filmkamera und beteuert, daß er ein schlechter Hobby- maler ist. Ich kenne das schon . Er zeigt vielen Gästen seine Kamera und 73
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