8. Jahresbericht des Bundesgymnasiums Steyr 1980/81
Warum hat eine Gitarre nur sechs Saiten? Weil eine Gitarre eben nur sechs Sa iten hat , erklärt Vater. Er erwartet von mir, daß ich zufrieden bin mit der Antwort , also bin ich zufrieden. Ich beginne, erwachsen zu wer- den. Es ist eigent lich nur logisch, daß eine Gitarre sechs Saiten hat, sonst wäre sie ja keine Gitarre. In 25 Minuten ist die Pause um, dann beginnt der Streß. Aussteigen, heimhasten, die letzten 100 Meter langsamer, Hund begrüßen, auch erbe- grüßt mich - ob er schon erwachsen ist? - Mutter begrüßen , essen. Das alles in 25 Minuten. Dann Vokabel lernen . Morgen ist Schularbeit in Französisch. Französisch ist eine schöne Sprache, eine intelligente Spra- che. Vater sagt, es ist nützlich, Französisch zu können , man kommt damit gleich weiter bei der Polizei . Und außerdem trägt man dann ein Schi ld- chen mit der Aufschrift „ Französisch " auf der Uniform. Auch das ist sehr nützlich. Abgesehen davon interessiert mich Polizei schon seit einem Jahr nicht mehr. Doch der Beruf hat Zukunft , und es ist ei ne sichere Stel- le. Staatsdienst ist immer eine sichere Stelle. Warum gibt es dann nicht mehr Polizisten? Ich wäre gerne Polizist geworden, aber ich habe nie Französisch gelernt, und ohne Französ isch kommt man nicht weit bei der Poli ze i. Bei dem Mädchen , das gegenüber von mir sitzt , ist die Pause schon um. Si e ste ig t eine Station früher aus als ich. Warum lächelt sie je- desmal, wenn sie ausste ig t? Freut sie sich , daß die Pause vorbei ist? Auf meiner Uhr ist noch gestern. Ich ziehe sie nicht auf , denn sie geht auto- matisch . Mein Firmgeschenk. Ich habe mich sehr darüber gefreut bei der Firmung. Die Uhr, die lustige Fahrt mit der Seilbahn auf den Schafberg, der Bischof mit der Mütze, und gestern ist die Uhr plötzlich stehengeblie- ben. Ich ziehe sie nicht auf. Vielleicht fährt der Zugführer bei der nächsten St ation durch, wenn ich ihm meine Uhr schenke. Ich will nicht aussteigen. Meine Pause ist gleich aus . Jetzt eine Weiche, die an der Station vorbei führt , durch grüne Wiesen und Mohnfelder. Ob hier das Rauschgift er- zeugt wird? Vater sagt , Erwachsene nehmen kein Rauschgift. Und ich darf auch keines nehmen, weil es gefährlich ist , obwohl ich nicht erwach- sen bin. Ich nicke, verstehe und bin zufrieden mit der Antwort. Vater hat es auch nicht anders erwartet. Doch ich glaube ihm nicht. Warum neh- men denn so viele junge Leute Rauschgift, wenn es doch gefährlich ist, und sind noch glücklich dabei? Doch Vater kann es nicht wissen , er ist schließ li ch erwachsen , und Erwachsene nehmen kein Rauschgift. Außer- dem ist es gefährlich. Die Bäume laufen immer schneller an me inem Abteil vorbei. Die Blu- men auf der Wiese öffnen ihre Blüten, um den Zug zu sehen. Vater sagt , Blumen können nicht sehen. Warum bemühen sie sich dann so, den Zug zu sehen? Vielleicht hören sie ihn nur? Nein , Blumen können auch nicht hören. Ja, natürlich . Und ich bin zufrieden, wie man es von mir erwartet. „ Jetzt, da du schon 17 bis,1_l<ann ich ja ein iges von dir erwarten " . Vater §äQtdas jedes 5afil'"äil meinem Geburtstag. Heuer kann er schon mehr er- warten a ls letztes Jahr, ich bin ja auch ein Jahr älter und werde bald er- wachsen. Meine Schwester ist erst 15. Von ihr erwartet man auch noch nicht so viel. Nur, daß sie sich nicht mit Burschen herumtreibt und daß sie höflich ist und nicht frech und daß sie die Affenmusik leiser dreht. 72
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