2. Jahresbericht des Bundesgymnasiums Steyr 1974/75
GEDANKEN ZUR WIENFAHRT Am Montag Morgen kommen wir in unserer Unterkunft in Hütteldorf an. Das Haus Paradies präsentiert sich auf den ersten Blick sehr sympathisch durch eine ruhige Lage, einen großen Park und eine relativ kleine Entfer- nung vom Stadtzentrum. Wir freuen uns. Leider zu früh , denn wir haben unser „Zimmer" noch nicht gesehen. A<uf den ersten Blick könnte man es mit einem Flüd1tlings- lager verwechseln: winzige Kojen mit je 4 Betten, nur durch einen Vorhang vom Gang und durch -eine ,dünne Holzfaserplatte von der nächsten Koje getrennt . Das is t unsere Unterkunft. Daß Madchen bevorzugt behandelt werden, merken wir an ,der Behausung der Buben: sie sieht aus wie das Paradebeispiel einer Baracke irgendwo in ,den Slums . Keine Vorhänge mehr, Bett reiht sich an Bett. Ein kleiner Raum i-st für -die Professoren -abgeteilt. Schon von außen sieht man deutliche Zeid1en ,des Verfalls: abbröckelnder Putz und morsd1es Holz. Kleine, vergitterte Fenster erinnern stark an ein Gefängnis. Mittlerwei le ist die nächste Überraschung fällig: das Frühstück, bestehend ruus einer alten Semmel, Butter und Marmelade sowie einer lauwarmen, un- definierbaren Brühe. Es soll Kaffee sein. Der Appetit vergeht uns so sdrnell wie er gekommen ist. Alle Hoffnungen konzentrieren sid1 nun auf das Mit- tagessen. Wir essen in einer Ausspeisung in der Salvatorgas,se. Durch unsere za,hlreichen Exkursionen sind wir schon ziemlim abgehärtet, aber so etwas haben wir noch nicht erlebt . Jeden Tag finden wir ,die Reste des Vortages wieder. Und das für einen weit überhöhten Preis! Es wäre wirklid1 5ehr inter- essant, zu wissen, was sich die verantwortlid1en Stellen dab ei denken! Kön- nen oder wollen sie nid1ts dagegen unternehmen? Halten sie Sd1üler für Gäste letzter Klasse? Bei den Führungen und Besid1tigungen ist es ähnlich. Die Führer kom- men sehr oft mehr als eine Viertelstunde zu spät. Die Führungen selbst sind meist so nichtssa,gend, daß wir nachher genausoviel b:ziw. - wenig wissen wie vorher. Kann man von einem Führer wirklich nid1t mehr verlangen, als zu sagen: ,, Rechts sehen Sie dieses, links jenes Haus"? Aud1 wenn man kul- turell sehr interessiert ist, kann einem durch solche Führungen die Freude an Besid1tigungen gründlich verdorben wevden. Da nid1t alle Sehenswürdigkeiten beisammen liegen, müssen wir oft längere Strecken zu Fuß zurücklegen. Mit zunehmender Müdigkeit schwir1det natürlid1 auch die Aufnahmebereitschaft. Aber trotzdem gewinnen wir einen kleinen Einblick, den wir später selbst nod1 erweitern müssen. Zur Abendgestaltung stehen u11S von Burgtheater und Staatsoper bis zu kleinet Kellerbühnen sehr viele Möglichkeiten offen. Dom aud1 hier müssen wir -uns auf wenige, aber sehr beeindruckende Erlebnisse besdiränken. Obwohl wir von Wien viel gesehen und gehört haben, fohlen uns bei manchen Dingen zum besseren Verständnis di e tiheoretischen Grnndbegriffe. Wie sollen wir die Stellung und die Probleme dieser Stadt verstehen, wenn wir von der geschichtlichen und sozialen Entwicklung ,der letzten 50 Jahre 62
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