2. Jahresbericht des Bundesgymnasiums Steyr 1974/75

Dr. Karl Mayer: Die neue Grammatik des Deutschen im Unterricht Zur Situation der Schulgrammatik Auf di e Frage, wozu wir im Deutschunterricht Grammatik lernen, antworten die Schüler fast immer: ,, Um eiin Dichtiges Deutsd1 zu lernen. " Die Ernüchte- rung folgt aber sogleich auf die 2. Frage, wer b eiim Sd1reiben eii nes Aufsatzes oder b eii m Spred1en an die „Regeln der Grammatik " denkt, falls sie soldie bi etet. Wir sd1-reiben und spred1en nomialerweise, ohne daß un,s ,d~e Gesetze der Grammatik bewußt werden. Und das ha t auch seine Begründung : Wir können ja grundsätzlid1 aJ.s Teilhaber einer Sprachgemeinsdiaft Deut,sch. Deutsd1 ist u11sere Muttersprad,e. Eine weitere ernüd1 ternde Feststellung schli eßt sid1 a.n: Wenn d.ie Granunaitik den Weg zum richti gen (oder besseren) Deutsch bieten •soll, da1 m muß ge- klärt werden, wais da,s r:ichtige De'lltsch ist und woriin die Norm zu sehen ist . Soll ·drie Sprache der Grammat ik folgen oder die Grammatik der Sprache? Der Grammatikun terricht in der Schul e orientiert sich vornehmlich an den Texten der Dichter (und ,da be;;onders an den Texten der Kla,ss~ker). Die Sprache der Klassiker (ein schließlich der großen Erzähler bi,s Werner Bergen- gruen) ist ,abeT nid1t immer die Sprache unserer Ze:it. Wir spüren, daß die Sprache lebt und Verändernngen u1nte·rworfen ist . Dje Grainrn,atik muß auch diesen Veränderungen gerech t werden können, wenn si e ech te Sprachlehre, also Lehre der lebenden, tatsächlich geschri ebenen UJ1d gesprod1enen Sprache sei n will. Dieser Grund satz führt all erd i·ng,s zu einer gewissen Unsicherheit in der Beurteilung des rid1tigen oder fa lschen Spradigebrauchs . Einige Bei- spiele sollen dies ve rdeutlid1en. Nod1 vor weni gen Jahren ko nnte Lud wig Reiners von einer „Hauptwör- ter-Seuche " sprechen (Stilfibel. Der sichere Weg zum guten Deutsch) . Fü,r ihn ist die „Hauptwörterei" eine „Sprachkra:nkheit, die sich tief e•inge- fressen hat, so tief, daß sie n icht leicht ZIU überwi nden i;;t." Der Substantivstil als n o m i 11 a 1 e Verdichtung gi lt aber heute berei ts ,als charakter ist isd1es Merkmal ,der deutschen Gegenwartssprache. Er begegnet uns nicht nur in ,der Sprache der Nachrichte nvennittlUJ1g. Kopfzerbrechen bereiten un s aud1 die „Sehrumpfsätze" in der Sprache der Wer b u 11 g. Solche „Kurzsä tze" oder „Eimvorta us,s•agen " finden sich auch in der 111 oder n e n Kurz g es c hic h t e. Mustetbe<ispiel : ,,Zehn- mal sd1Dieb sie das. Und Krieg mit G. Wi,e GrUlbe." Oder: ,, Nachts. In ,der Küd1e." (Wolfgang Borchert). Auch ,der bekannte Hinweis „Wegen Urlaub geschlossen" muß als berechtigte Sprachform gL' lten, trotz des fehlenden Genitiv-s . Mag dieses fehlende s in der Schule noch so seh r ange prangert werden, die Wirklichkeit der Sprache geht 3

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