10 Neben der Kapelle führt eine zweite Treppe in einige Wohnzimmer, deren größtes für den Saal gilt. Gleich im untersten ist in der Außenmauer eine Öffnung oder ein Pförtchen ausgebrochen, durch welches der Schwindelfreie in das berüchtigte Rosengärtl ein, welches noch jetzt unter diesem Namen bekannt ist, hinaussteigt. Ringsum sind nämlich die Mauern, wie aus den Klippen emporgewachsen, an den äußersten Felsenrand hinaus gebaut, um selbst den tollkühnsten Angriff von dieser Seite zu verhindern; hier aber, wo der Felsen überhängt, bildet eine durch den Meißel geebnete Platte desselben ein freies Plätzchen, etwa sechs Schritte lang, zwei breit, gleich einem Söller, der über der Tiefe eines schauerlichen Abgrundes trotzend in die Luft hinausragt. Was der Mund einer alten Sage von dieser schrecklichen Stelle erzählt, wird in der Folge besprochen werden. Keine Beschreibung würde hinreichen, dem Leser von der seltenen Kühnheit, außerordentlichen Festigkeit und einsichtsvollen Anordnung des ganzen weitläufigen Baues einen vollkommenen Begriff zu geben. Man muss dieses bewundernswürdige Werk selbst sehen und alle seine zugänglichen Teile mehrmals durchwandern, um sich zu überzeugen, mit welcher klugen und erschöpfenden Anwendung aller zu jenen Zeiten bekannten und zur Verfügung gestandenen Kräfte und Mittel der Bau geführt wurde, um diese Felsenburg zu einer, durch Natur und Kunst vor den Angriffen des Feindes geschirmten und fast unbezwingbaren Festung zu machen, deren Tore, wenn man die Unvollkommenheit der mittelalterlichen Belagerungswerkzeuge bedenkt, nur List oder Verrat den Feinden öffnen zu können schien. Wenn auch von dem ältesten, weit über das Jahr 1429 hinaufreichenden Bau, welchem das Hochschloss angehört, noch Teile vorhanden sind, was kaum zu bezweifeln ist, so wurden sie doch auf eine solche Weise zu den neuen Bauten verwendet und in dieselben aufgenommen, dass man das älteste Gemäuer vom neueren nicht mit Sicherheit zu unterscheiden vermag. Der jüngste Bau aus den zwei ersten Decennien des 17. Jahrhunderts ist leicht zu erkennen, und es sind vorzüglich die an der Westseite des großen Burghofes gelegenen Lokalitäten, welche in dieser Zeit ganz nach dem Geschmack und den Bedürfnissen derselben entweder nur umgestaltet oder vom Grund neu erbaut wurden.1 Tiefes Schweigen herrscht nun in diesen verödeten Räumen; nur der Sturm heult in den Ritzen der geborstenen Mauern und schüttelt rauschendes Laub in die dumpfen Gewölbe. Raubvögel schwirren mit trägem Fittich um die unbewachten Zinnen, und aus unzugänglichen Nestern krächzen ihre Jungen dem einsamen Besucher entgegen. Hoher Schutt von eingestürzten Gewölben und Zwischenwänden, zum Teile mit Moos, Bäumen und Sträuchern bewachsen, bedeckt den Boden der Gemächer, das ganze Gebäude ist seiner Dachungen beraubt; nur die ungeheuren Hauptmauern, mit dem zum Baue benützten Felsen, zu einem unzertrennbaren Ganzen vereinigt, steigen hoch zu den Wolken empor, als staunenswerte Trophäen des Sieges, welchen hier ein Werk der Menschen über die Macht der Alles zerstörenden Zeit zu erkämpfen versuchte. Einen nie verlöschenden Eindruck von ganz eigener Art bringen diese Ruinen hervor, wenn man sie als einsamer Wanderer, ernster Gedanken voll, nicht mitgerissen vom rauschenden Treiben einer bloß dem fröhlichen Genüsse der Gegenwart hingegebenen Gesellschaft besucht. Dann schweben in der feierlichen Stille mit dem Flüstern der vom leisen zum Läuten der Glocken zwei Strickröhren durch die Mauer gezogen sind, hatte keinen Zugang von Außen. 1 Als ich die Burg, nachdem ich hier am 18. October 1824 den Jahrestag der, jedem Deutschen ewig denkwürdigen Völkerschlacht von Leipzig in stiller Betrachtung und frommen Wünschen gefeiert hatte, am 24. August 1825 wieder besuchte, zeigte mir der Gastwirt zu Aggstein zwei in den Ruinen gefundene Silbermünzen: eine Münze des Christian Ernst Markgrafen zu Brandenburg-Culmbach von 1683 und einen Groschen des Kaisers Leopold I. von 1691. Ob sie irgendein Wanderer hier verlor, oder ob sie noch von den letzten Bewohnern der Burg herrühren, ist gleichgiltig, weil diese Münzen viel zu jung sind, um für die Geschichte von Aggstein von Bedeutung zu sein. Dagegen dürfte es manchen Freund der geselligen Tonkunst und die Mitglieder von Singvereinen interessieren, dass die weiten Burgräume am 10. Mai 1849 durch eine Art von Sängerfest belebt wurden, woran sich kleine Gesellschaften von Melk, Spitz, Krems u. A. beteiligten.
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