Zum 75. Todestag von Anton Bruckner
nicht Gelegenheit gehabt hatte. Hierin mag er seinen Zeitgenossen gelegentlich wie ein hilfloses Kind vorgekommen sein, das man führen und weisen mußte. So, wenn er auf Reisen nach Bayreuth einen Begleiter haben wollte, so aber auch, wenn er bei der Umarbeitung von Symphonien einen Franz Schalk zu Rate zog. War das Schwäche? War es Unsicherheit, Zweifel an sich selbst, am eigenen Werk? Wo liegt da die Größe, von der wir sprechen, die wir Bruckner nachrühmen? Zur Beantwortung dieser Frage hilft uns nur mehr der Blick ins Metaphysische. So wie er sich Gott in allem seinen Tun und Komponieren verantwortlich fühlte, in eben dem Maße suchte er sein Werk immer wieder zu bessern. Er war aber dabei im Grunde genommen seiner Sache vollkommen sicher. Das beweisen so manche seiner Aussprüche, das beweisen die Niederschriften seiner Symphonien in ihrer jeweils ersten Fassung. In ihnen „steht" das Werk eindeutig und klar, geltend für ,,spätere Zeiten", wie er einmal hinsichtlich der Achten an Felix Weingartner schrieb. Diese Sicherheit bezog er aus zwei Quellen : aus seinen musikalischen Studien und aus seinem täglichen Gebet. Beides sind Bereiche, in denen sich verschiedene Seiten von Bruckners Größe in bedeutsamer Weise äußern. Gemeinsam ist beiden eine geradezu unwahrscheinliche Beharrlichkeit und ein ebenso unbegreiflicher Fleiß im ständigen Niederschreiben. Bruckner hat während seiner sechs Jahre Lehrzeit bei Simon Sechter Stöße von Aufgabenheften, ja ganze Bände geschrieben. Mit unermüdlichem Fleiß wird jede Aufgabe, jede Akkordverbindung in allen Tonarten geübt, so daß man angesichts einer solchen Menge wirklich von genialem Fleiß sprechen muß, aus dem sich eine Größe an Wißbegierde ableiten läßt, die ihresgleichen sucht; sie ist eben nur dem Genie eigen, wie wir das auch an anderen Meistern beobachten. Die zweite Quelle ist seine Frömmigkeit. Bruckner hat Jahrzehnte hindurch ununter- brochen sein tägliches Gebet aufgezeichnet. Er würde es wahrscheinlich nicht sehr gerne sehen, daß man darüber spricht, da wir nun aber seine Größe vor Augen haben, mag es uns wohl verstattet sein, ihn aus diesen schriftlichen Zeugnissen als das vorzustellen, was er zu seinem Kompositionsgenie auch noch gewesen ist : Der unablässige Beter. Man kann diese Aufzeichnungen als ein Relikt seiner Nervenkrankheit ansehen, die er sich durch sein übermäßiges Studium, sein Klavier- und Orgelüben zugezogen hatte. Er wurde ausgeheilt, und die erste Komposition darnach war die große f-Moll-Messe von 1868. Aber diese „Zählmanie", die sich auch in den metrischen Ziffern der Partituren wiederfindet, die offenbart uns in den Gebetslisten, um einen Ausdruck von Robert Haas zu gebrauchen, den eigentlichen Grund von Bruckners geistigem Wesen. In seinem unablässigen Beten liegt der Urgrund für Bruckners Größe: Für den Reichtum seiner Kompositionen, für die Gediegenheit seines musi- kalischen Wissens, für seine Kraft, mit der er alle Widerwärtigkeiten ertrug, nicht nur die, die ihm von so manchen seiner Mitmenschen zugefügt wurden, sondern für seine Eigenheiten, an denen er wahrscheinlich schwer genug zu tragen hatte. Aber, wer wollte angesichts des Adagios der IX. Symphonie, mit dem der Meister vom Leben Abschied nahm, an der Größe seines Menschentums zweifeln. 12
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