75 Jahre Enrica von Handel-Mazzetti 1946

„Der Geist, der aus diesem Epos spricht, ist der Geist der Gerechtigkeit und die führt eine harte, doch nicht abstoßende, sondern eindringliche und schwerwiegende Sprache. Wer für ihre Sache in Wahrheit streitet, dem verleiht sie auch die Kraft ihrer Rede und die Wucht der Überzeugung. Es war nun an den Mitgliedern des Stelzhamerbundes, ein Urteil über die Dichtung abzugeben. Bevor ein solches eintraf, schrieb Hanrieder an Primar Dr. Schnopfhagen am 9. 5. 1892 folgenden aufschlußreichen Brief: „Sie ver¬ muten wahrscheinlich im vorhinein schon, daß ich bezüglich meines Opus, „Der Bauernkrieg“ das Wort ergreife. Ja — es liegt mir manches auf dem Herzen uind will ich es, angesichts der Zögerung, womit Herr Dr. Matosch die Besprechung hinaushält, von mir geben. Ich habe ganz absichtlich die Dichtung ohne Kommentar und Vorwort ab¬ gesendet. Sie sollte für sich selbst sprechen, eine unvoreingenommene Diskussion veranlassen und hiedurch meine Gesichtspunkte hervortreten lassen. Eine gewisse boshafte Neugierde ließ mich auch begierig sein, ob die Herren die verschiedenen Absprünge von der historischen Bahn, die ich mir freilich nur in unwesentlichen Teilen erlaubte, so wie auch die verschiedenen Schwächen, deren ich mich selber zieh, entdecken würden. Mir war dabei so fröhlich zu Mute wie dem Meister Reineke, der sich verfolgt weiß, aber bei den verschiedenen Aus- und Einwegen im Schlosse Malepartus sich nicht viel gefährdet fühlt Auf einen Einwurf, nämlich des Mangels einer Hauptperson in dem bäuer¬ lichen Epos, war ich nicht gefaßt. Trotz der Neserve, die mir bei meiner An¬ wesenheit in Linz von Seite der beiden Herren begegnete, ließen Herr Doktor diese Seite der Bemänglung durchblicken und bin ich Ihnen dankbar dafür, weil ich nunmehr wenigstens über einen Gegenstand mich aussprechen kann Ich habe Ihnen mit dem Hinweis auf die Fliade und das Nibelungenlied geantwortet, jenen beiden Musterepen, aus welchen die Asthetiker ihre Haupt¬ regeln deduzieren. Beide haben einen Hauptgegenstand, aber keine Hauptperson sondern nur hervorragende Charaktere. Und doch handelte es sich hier um Be¬ arbeitung der Sage, die dem Dichter genügende Freiheit gestattet, durch Ver¬ schiebung von Zeit-, Orts- und persönlichen Umständen jede beliebige Fiaur als Hauptperson hervortreten zu lassen. Es war jedoch ein Rest, eine Art Rückschlag von historischem Gefühl, das die beiden Autoren der Iliade und der Nibelungen respektierten und das auf die vollständige Umstülpung verzichten hieß. Um so beschränkter wird sich die poetische Freiheit gegenüber streng historischen Stoffen gestalten? Beim romantischen Epos ist freilich eine Hauptperson möglich, weil der Dichter hiebei vollständig freie Hand hat; darum ist es auch für Wolfram von Eschenbach kein Vorzug, wenn der Titelheld auch zugleich der Held der Dichtung ist. Auch die eigentliche freie Sagen- und Legenden-Dichtung macht die Vor¬ ührung einer Hauptverson nicht unschwer (Odyssee) und das religiöse Epos Heliand, Messiade) lebt ja sozusagen von derselben. Gudrun, die Nebensonne des Nibelungenliedes, ist der Anlage nach verfehlt wenn eben Gudrun die Hauptperson sein soll, wird aber sofort vor dem Gerichte der Asthetik bestehen, wenn man ihr einen anderen Titel geben wollte, wie denn auch die beiden Musterepen nicht nach Personen, sondern nach Gegenständen ihre Marke erhalten. 69

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