75 Jahre Enrica von Handel-Mazzetti 1946

teiche habe ruhen sehen: dann war es mir, als fielen Märchenworte in mein Herz, und ich nahm des Waldes ganzen Zauber, der mich aus solchen Worten angeweht, in meine Träume mit. Wenn ich heute Samhabers Märchenepos „Der kleine Däumling“ auf mich wirken lasse, so weht mich dieser alte Zauber wieder an. Mag auch das Erlebnis anderer Wälder unserer Heimat in die stimmungs¬ vollen Waldesbilder dieser Dichtung eingegangen sein, die tiefste Weihe hat ihr doch, so scheint es mir, der Geist des Schacherwalds gegeben Aus Kremsmünster läuft kein Weg ins Weite, den nicht Onkel Eduard in seinen Sommerferien gegangen wäre, sinnend und in Erinnerung versunken. Denn dort grüßten ihn, dessen Lebensreis aus der mütterlichen Erde Freistadts früh schon in Kremsmünsters Boden verpflanzt geworden war, auf Schritt und Tritt die Stätten seiner Knabenzeit und ersten Jünglinsjahre. Ich kann mir vorstellen, daß er in der Hofwiese, die sich wie ein grüner Festplatz der Natur zwischen Fluß und Markt hinbreitet, so manchen Nachmittag verruht hatte, vom Traumgesang der Wasser sanft bezaubert, den die Krems ihm zugespielt. Oder daß er über die brüchigen Felsenstufen der Kreuzwegstiege zum barocken Rundbau der Kal¬ varienbergkirche hinauf geschritten war und daß sich dort sein trostbedürftiges, von frühem Leid beschwertes Herz in den gloriadurchbrausten Heilandshimmel aufgeschwungen hatte, in den Andreas Heindls, des begnadeten Welsers Künstler¬ hand, die Kuppel dieses schönen, von Ostergeist durchwehten Gotteshauses ver¬ dem wandelt hat. Ich kann mir vorstellen, wie er unter der alten Linde auf seine Gustermeierberg, dem „Baum mitten in der Welt“, gestanden war und Blicke bald auf dem firnenhellen Bild der Alpenberge hatte ruhen, bald über Wald- und Ackerhügel, über Kirchen, Schlösser und Gehöfte hin in die Weite des flachen Landes hatte schweifen lassen, bis ihn aus dem Dufthauch der Entrückung als weißer, nach oben zweifach ausgestrahlter Glanz die Wallfahrtskirche auf dem — Pöstlingberg bei Linz gegrüßt ein Pilgerschiff, von einer Woge fernenblauen Hügelmeeres nach himmlischer Küste hingetragen * Wie manchen Tag auch mag er, das Schloß Kremseck, dem zum adeligen Vierkanthof nichts als das Steildach fehlt, vor Augen, zum Markt hinaus ge¬ wandert und 'längs der hohen Schloßparkmauer bergan gestiegen sein, um sich auf erreichter Höhe dem Glück des kleinen Weges hinzugeben, der neben der großen Straße her, wie ein Kind, wenn es mit seiner Mutter überland geht, durch die Wiese läuft, sich mit Blumenketten schmückt, über Obstbaumwurzeln hüpft und über Wasserrinnen springt, beschwingt auf einen Hügel klettert, sich hinter einem Strauch versteckt, plötzlich, wie nach einem Falter jagend, einen Hang hinabstürmt —, bis sie, die große Straße, ihn, den kleinen Weg, zurückruft und nun beide gleichsam Hand in Hand in die Ortschaft Nohr hineinspazieren. Dem Hügel gegenüber, der die traute Nohrer Kirche trägt, steht auf einer lang gestreckten, aus der Krems-Au wachsenden Bodenwelle das schmucke, schlank getürmte Schloß Achleithen am Ausgang eines Höhenweges, der, von einem Wald begleitet und manches Stück von ihm umfangen, nach Kremsmünster zieht. Auch auf diesem Wege sehe ich im Geiste meinen Dichter-Oheim gehen, sehe ihn besinnlich stehen bleiben, wann er im Schwarzholz, dessen würzigen Duft er atmet, dem Flöten einer Amsel lauscht, sehe ihn dann aus der grünen Dämmerung des 33

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