75 Jahre Enrica von Handel-Mazzetti 1946
Über der zweiten Laube entzieht sich die Jungfrau in verblassenden Veilchentönen. Aus dem dritten Gewölbe sinkt das Spruchband herab, von Engeln durch die bläulich verschleierte Luft getragen: Assumpta est Maria. Schleifen des Zierats durchspinnen die Kirchenhalle, steigen wie Sprossen einer verschlungenen Leiter in die Wipfel hinauf. Jugendlich stehen die Heiligen um die Seitenaltäre, maienhaft blühend die Anmut der Frauen, von froher Würde die Büßer, die Märtyrer selbst mit heiter bewegter Gebärde, nur halb ihres Duldens gedenk, nach dem offenen Himmel emporgewendet. Leuchtende Überfülle der Baukunst und Bildniskunst, wie könnte das Wort ihr gerecht werden. Nur weniges will ich andeuten, nicht wählend und wertend sondern wie man zwanglos blättert im Buch der Erinnerung. Wer vergäße wohl das fürstlich entfaltete Treppenhaus in St. Florian, oder die schwingenden Arkaden des Fischbehälters und den forschenden Drang des astronomischen Turms von Kremsmünster, oder die Dreifaltigkeitskirche von Stadl-Paura in ihrer mystischen Dreigestalt, oder das schmiedeeiserne Gitter der Stiftskirche in Spital am Pyhrn, die Fischerkanzel von Traunkirchen, die lieblichen Engelfiguren Meinrad Guggen¬ hichlers in Mondsee, das flammende Akanthuswerk der Seitenaltäre in Ranshofen oder auch nur das paukenschlagende Englein an der Orgelbrüstung zu Gleink oder die sonnige Blütenpracht der Begonien im Säulengang des Klosters von Reichers¬ berg? Reichtum der Kunst, nicht weniger unergründlich als der Reichtum des Bodens, der sie getragen hat, mögen sich noch viele Geschlechter erheben und laben an deiner Größe und bejahenden Freudigkeit. Wenn von den formenden Kräften der Heimaterde gesprochen wird, mußt auch du genannt werden. So ist es kein Zufall, daß die große Evikerin des Barock, Enrica von Handel¬ Mazzetti, in unserem Lande ihre Wahlheimat gefunden hat. Zwar greift ihr reiches Schaffen wiederholt über den Nahmen der Barockzeit hinaus, fühlt sich aber immer wieder von den Stoffkreisen und Problemen, dem Kolorit und den dramatischen Spannungen dieser Epoche gefesselt und angeregt. Die Aufgabe des Epikers ist es, ein großes Geschehen, ein Werden oder Vergehen, ein Ringen widerstreitender Kräfte darzustellen. So beschäftigen denn die Dichterin nur ge¬ legentlich die verhältnismäßig beharrenden Zeiten des Hochbarock, denen wir die großen Bauwerke unseres Landes verdanken, sie erfaßt vielmehr die geschichtliche Erscheinungsform an ihrer Wurzel oder an ihrem Ausgang: in den Glaubens¬ kämpfen von Kirche zu Kirche, von Mensch zu Mensch, aus denen sich der Sieg der Gegenreformation erhob, oder im Ningen des Spätbarock, als sich die über¬ kommene Glaubens- und Lebensform mit den Einflüssen des beginnenden 18. Jahr¬ hunderts, mit Aufklärung und Verweltlichung, auseinandersetzte. Den bewegten Ursprung der Epoche schildern die Romane „Fesse und Maria' “„Die arme Margaret“ und „Stephana Schwertner“. Während dann „Die Warenbergerin der zweiten Türkenbelagerung Wiens gewidmet ist, führen uns die Nomanwerke „Meinrad Helmpergers denkwürdiges Jahr“, „Frau Maria“ und „Johann Christian Günther“ in die Zeiten des österreichischen und sächsischen Spätbarock. So deutet die groß umfassende epische Werkfolge der Dichterin die geistigen Grund¬ lagen unsres Kulturbesitzes und vertieft und bereichert das überkommene Erbe durch die Schöpfungen einer wesensverwandten Gestaltungskraft. Wenn sich der Linzer der Einheit seines vielgestaltigen Landes bewußt werden will, so braucht er keine große Reise zu unternehmen. Es genügt, daß er an einem 28
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