75 Jahre Enrica von Handel-Mazzetti 1946
historischen Nomans, der eben Wirklichkeitsdarstellung sein will, und begeben uns ins Neich der Legende. Aber die schlichte Form der Legende stünde Handel¬ Mazzetti ebenso wenig zu Gebote wie die des Entwicklungsromanes. Es ist be¬ eichnend, daß sie in ihrer Jugendarbeit zu einer erweiternden Ausmalung der Agnes-Legende schreitet. Im Grunde genommen, handelt es sich bei allen Unter¬ chieden um ein ähnliches Verhältnis, wie wenn Conr. Ferd. Meyer die rätsel¬ hafte Gestalt seines „Heiligen“ Thomas Becket menschlich-psychologisch zu erklären ucht. War für die Handel-Mazzetti die Legende Ausgangspunkt, so war ihr Ziel der große historische Noman, der sich immer mehr dem Geiste der Legende und der Märtyrerakten zuneigt, und nur von der geschichtlichen Umwelt her wird es faßlich, daß die Dichterin nicht auf die Bahn des frühchristlichen Nomans ge¬ kommen ist, die zunächst ihrer geistigen Haltung entsprochen hätte. Die Eigenart ihres Werkes aber besteht, von aller Kunst der geschichtlichen Verlebendigung ab¬ gesehen, wesentlich darin, daß sie mit den Mitteln des am modernen Naturalis¬ mus geschulten Romandichters, über die beengende naturalistische Motivierung hinausstrebend, zu einer Form gelangt, die eben stark vom Geiste der Legende bestimmt erscheint. Ihr Werk liegt zwischen Historie und Legende. Denn immer handelt es sich um Verherrlichung des Glaubensstreiters, der aus dem Konfessionellen ins all¬ gemein Christliche emporwächst und nun auch gegen den Feind des Volkes (Sand¬ Kotzebue) und gegen den Glaubens- und Staatsfeind ankämpft (die Starhemberg¬ Romane aus der Türkenzeit). Von der Legende aus führte die Dichterin der Weg über die Historie wieder zur Legende zurück, das heißt zu einer Form, die zwischen Legende und Historie liegt, aber eine offensichtliche Weiterbildung der einen Historie zum Legendenhaften hin genannt werden muß, Religiös sittlich will sie die Wirksamkeit ihrer Kunst gesehen wissen. Nicht nur, daß sie über die Bösewichter in ihren Werken strenges Gericht hält, was wieder vom Naturalismus ablenkt, nicht nur, daß sie in jedem Werke eine endliche mora¬ lische Neinigung anstrebt, auch ihre Kunstauffassung ist moralisch-religiös bedingt. Bei der Erwägung von möglichen Anschuldigungen und Vorwürfen gegen die Ge¬ stalt der Else im Sand-Roman tröstet sie sich (Günther S. 211): „Was grämst du dich, wenn dein Kind nicht weltlich Lob gewinnt? Dem Herrn ist sie wert, der Himmel segnet sie, das laß dir genug sein. Schaffst du für die Zeit oder schaffst du für die Ewigkeit?“ Diese „Ewigkeit ist nicht im Sinne des horazischen „Aere perennius“, sondern im Sinne ewiger, jenseitiger Bestimmung gemeint. Darum schätzte die Dichterin auch „Nitas Briefe' von ihren Werken besonders hoch, weil ie im Krieg am meisten sittliche Wirkung taten. Das Primäre auch für die Kunstauffassung Handel-Mazzettis ist also Förderung von Glauben und Sittlich¬ keit, eine rein ästhetische Einstellung stünde ihrem ganzen Wesen fern, so wie sie Adalbert Stifter fern gestanden ist. Magna res est caritas. So lautete nach Thomas a Kempis das Motto ihres ersten geschichtlichen Romanes. Die Macht der christlichen Liebe strahlt ieghaft aus allen ihren Büchern. Und gehen ihre Heldinnen auch leiblich zugrunde, ie triumphieren wie Schillers Helden über die Erbärmlichkeit der irdischen Welt, Träger adeliger Ideale, die sie bis zu ihrem Untergang verteidigen und festhalten. Über diesem endlichen Sieg schwindet alles Erdenleid wie Nauch dahin. Aber die 163
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