75 Jahre Enrica von Handel-Mazzetti 1946

in einer anderen Welt beheimatet, die über die irdische hinaus geht. Darum ist mit dem Heiligen das überirdische Reich des Wunders verquickt, das sich wohl psycho¬ logisch in seiner Wirkung, aber nicht in seinem Wesen geben läßt. Der Heilige sprengt, sobald er über das Ethische hinaus als Heiliger gezeichnet werden soll, den Nahmen des psychologisch-historischen Romans als einer Wirklichkeitsform und wirkt in ihm in gewisser Hinsicht als Fremdling, als Seltsamkeit, die wohl Auf¬ sehen erregt, die aber im Grunde anderen Gesetzen unterworfen ist als die Welt des Alltags, die Welt der „Gesellschaft“. So kann für die Aufgipfelung ins Über¬ innliche, die mit der Gestalt des Heiligen gegeben erscheint, soweit sie das Mensch¬ lich-Ethische überragt, die realistische Nomanform nicht genügen, es bedarf einer anderen Formung, die der Expressionismus in der Vernachlässigung und gewalt¬ amen Umbiegung der Wirklichkeit gefunden hat, und der die Handel-Mazzetti zuerst in „Ritas Vermächtnis“ nahe gekommen ist. In den letzten geschichtlichen Nomanen aber, in denen die allgemein christliche Liebe im Kampfe gegen eine unchristliche Welt steht, nicht mehr bloß der Zwist der Bekenntnisse überbrückt werden soll, ist dieser Zwiespalt zwischen Legende und Historie spürbarer als in den früheren, weil nun wirklich der Heilige eingeführt ist, der in den Werken bis zur „Stephana“ fehlte, trotz mancher Tendenz in dieser Richtung. Darum sind bei aller Ahnlichkeit in der Handhabung des Geschichtlichen,bei aller Gleichheit der Technik doch diese beiden Gruppen kaum recht miteinander zu vergleichen, denn der kongenialen früheren Form des historisch-psychologischen Nomanes tritt nun eine Form gegenüber, die eben wohl nicht kongenial bezeichnet werden kann, son¬ dern die eine Zwischenform genannt werden muß Legende gibt ein Sein, das zum Sollen wird, sie gibt kein Abbild, sondern ein Vorbild. Wenn nun in den letzten Werken vielfach die Gestaltung von der Idee her stärker durchbricht als früher, so sieht man, daß sich die Idee erst den Leib sucht, und das ist etwas anderes, als wenn Idee und Leib gleichzeitig ge¬ schaffen werden. So erscheint Handel-Mazzettis Spätform als eine der vielen möglichen Zwischenlösungen im Bereich dichterischer Prosa, denn die Legende grenzt einerseits an den phantastischen Roman, der das Reich des Sonderbaren, anderseits an das Märchen, das das Reich des kindhaft Wunderbaren umschließt. Die Ermattung von Handel-Mazzettis Kunst in modernerer Umgebung aber ist individuell bedingt und kann nicht im modernen Milieu liegen, wie Versuche von Franz Herwig, Karl Borromäus Heinrich und Hans Noselieb gezeigt haben. Legende ist wohl zunächst ort- und zeitbedingt, wächst aber darüber hinaus ins Zeitlose, ins dauernd Gültige. Es wäre nun aber irrig, daraus den Schluß zu ziehen, daß es sich bei den Romanen der Handel-Mazzetti um verkappte Legenden handle, um eine Aus¬ ormung etwa zu einer Art Großlegende, was besonders die „Stephana“ nahe liegen könnte. Denn es ist zu unterscheiden zwischen Legendenstoff und Legenden¬ motiven und der Legendenform, die zunächst ja die eigentliche Form dafür ist. Aber Stoff und Motive können in andere Formen eingehen. Und das ist bei Handel-Mazzetti der Fall. Nicht entweder Historie oder Legende, sondern Historie und Legende muß es daher heißen. Wie seltsam mutet aber im historischen No¬ man dann das eigentlich Wunderbare an, wenn etwa die Hostie, die auf die Lippen der sterbenden Mater Alexia gelegt wird, geheimnisvoll verschwindet, obwohl sie die Lippen nicht bewegt („Graf Reichhard). Da verlassen wir den Boden des 162

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