75 Jahre Enrica von Handel-Mazzetti 1946

auf Jesse von Velderndorff, den Helden von „Jesse und Maria“ verwiesen (1. 231 f.). Ob nun bewußt oder unbewußt, oft trifft man auf dichterische Vorformungen Vorbilder zu sagen, wäre falsch, weil es sich kaum um unmittelbare Abhängigkeit dreht). Sie finden sich natürlich hauptsächlich wohl in der klassischen Literatur, die ja die menschlichen Grundsituationen am einprägsamsten und gültigsten gezeichnet hat, Situationen, die sich eben als Urformen menschlichen Daseins immer wieder¬ holen müssen. So gehorcht Stephana durch die Pestwallfahrt ihrem Gott mehr als menschlichem Auftrag, indem sie das Gebot des Stadtrichters Händel über¬ tritt, wie Antigone das Gesetz des Königs. Sand begeht politischen Mord wie Schillers Tell. Stephana und Heinrich Händel, das Liebespaar verfeindeter Häuser, läßt von fern an Nomeo und Julia denken. Und immer spuken im Zu¬ sammenhang mit der religiösen Welt Legendenmotive herum. Diese Legendenmotive sind nach Zahl und Bedeutung vielleicht die wich¬ tigsten. Sie treten besonders deutlich gerade in den modernen Nomanen um Nita hervor, wahrscheinlich weil sie in moderner Umgebung stärker empfunden werden, aber wohl auch deshalb, weil es sich bei der Rita-Gestalt um die Idealfigur einer kleinen Heiligen handelt, der in „Nitas Vermächtnis“ dann als Gegenspieler sinngemäß der Satan selbst als Dr. Stana entgegengestellt wird. Es ist auch hier also nicht Abbild der Wirklichkeit im naturalistischen Sinne, was Handel¬ Mazzetti gibt, sondern Gestaltung ihrer eigensten Ideenwelt. Mit dem Motiv der Gottesbraut, mit dem Bekenner- und Märtyrermotiv dringt aber in alle Nomane der Handel-Mazzetti etwas von der Haltung der Legende ein, wie sie im Bereich des historischen Romans sonst eigentlich nur der frühchristliche Noman geduldet, a ausgiebig verwertet hatte. Und möglicherweise ist solch legendenhafter Zug auch in mancher Verachtung der banalen Wahrscheinlichkeit und Wirklichkeit zu erblicken, wodurch die Welt des Zufalls, der das „Wunder“ der modernen Epik ist auch ihr Recht gewinnt. Seelische Wandlungen, auch wenn wir sie zu verstehen glauben, haben immer etwas Wunderbares an sich, weil sie nie als unausweichlich erwiesen werden können. Und so kann jede Bekehrung als ein Akt unergründ¬ lichen Wunders aufgefaßt werden, sei es im religiösen, sei es im verweltlichten Sinne. Oft wird ja Wunderbares so gegeben, daß es offen bleibt, ob es sich um eine Vision, ein Traumgesicht, etwas wirklich Übersinnliches oder auch bloß um eine sprachliche Gebärde handelt. Der Mörder Else Walchs (im „Blutzeugnis erscheint geschildert wie der leibhaftige Teufel. Der sterbende Günther sieht eine Erscheinung Mariens mit dem Kinde, so wie die Heiligen der Legenden den Himmel offen sehen. Maria von Bronnen träumt von Günther und erblickt ihn verklärt mit Christus, dem guten Hirten, während die Historie ein immanentes Geschehen darstellt, wird die Legende immer auf das Wunder abzielen Legende ist transzendent, natürlich immer im Sinne der echten, der christ¬ lichen Legende genommen, nicht im Sinne der säkularisierten Form. Darum bleibt Legende immmer auch dem Märchen verwandt. Handel-Mazzetti benützt die Historienform und strebt innerlich zur Legende, was mit den Mitteln des psychologisch-historischen Nomans nicht möglich ist. Denn „in der Historie wird alles, was in einer anderen Form bedeutsam war, bedeutungs¬ los. Alles, was zur Form der Legende gehört, wird von der Form der Historie aus nun auch unglaubwürdig, zweifelhaft, schließlich unwahr“. Der Heilige ist 161

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