75 Jahre Enrica von Handel-Mazzetti 1946

schreibung betrachtet werden kann, die, von Scheffels „Ekkehard“ angefangen, im archäologischen Noman mit seinen oft umfangreichen wissenschaftlichen Anmer¬ kungen den Spott Fritz Mauthners herausforderte. Und doch kann kein Dichter von Geschichtsromanen an der Frage der Geschichtlichkeit ungestraft vorüber, es sei denn, er höbe den Stoff ganz ins Visionäre und Übergeschichtliche. Bei Handel¬ Mazzetti sind solche Anmerkungen verhältnismäßig selten, aber sie weisen in ihrem Vorhandensein dennoch auf die Differenz zwischen Wahrheit der Geschichte und Wahrheit der Dichtung, die sich nach Absicht der Dichterin decken sollten und sich doch ewig nicht decken können. Denn jeder historische Noman muß in erster Linie Roman, also Dichtung sein, und der Dichtung bleibt die geschichtliche Wahrheit durchaus untergeordnet. Nur das geschichtlich geschärfte Gewissen des letzten Jahr¬ hunderts hat diese Genauigkeit bedingt, die früheren Zeiten völlig unverständlich bleiben mußte und die neuerdings wieder mehr zurücktritt. Daß der Geschichts¬ roman aber in erster Linie Dichtung ist, verrät vor allem auch das, was man mit einem Wort Goethes „Wiederholte Spiegelung“ nennen könnte. Im Literari¬ schen wäre da die Entsprechung in stofflich-motivischer Berührung mit früheren Schriftwerken zu suchen. Literarische Gestaltungen wirken verstärkend oder kon¬ trastierend fort. Es wurde bereits darauf verwiesen, daß der „Deutsche Held das Homburg-Thema, die Moral von Schillers „Kampf mit dem Drachen wiederspiegelt und daß bei der Frage von Tessenburgs Mordtat gelegentlich auf Schillers Tell gedeutet wird. Auch Kleists Kohlhaas wird in diesem Zusammen¬ hang erwähnt. Das ist nicht mehr als bloßes Zeitkolorit aufzufassen, sondern geht tiefer. Welche Rolle die Agnes-Legende im Schaffen Handel-Mazzettis spielt, kann nur kurz angedeutet werden. Denn die jugendliche Gestaltung des Stoffes bedeutete für die Dichterin keine endgültige Bewältigung, so daß die „Stephana“ im wesentlichen die Konstellation der Agnes-Legende neuerdings aufnimmt, aber in andere Umgebung versetzt Lessing hatte seine Miß Sara Sampson im Hinblick auf die antike Medea als bürgerliche Umbildung gestaltet, seine Emila Galotti im Hinblick auf den antiken Virginia-Stoff geformt. Das begegnet ja immer wieder und Goethe hat vor allem im „Faust“ von solcher Möglichkeit bewußt Gebrauch gemacht. Geht man solchen Dingen nach, so begegnet manches Interessante. Die Familie des aus Oberösterreich nach Quedlinburg um seines Glaubens willen ausgewanderten Franzmeier greift das Thema von Schönherrs „Glaube und Heimat“ auf, gibt ihm aber eine andere Wendung dadurch, daß Franzmeier noch mehr als seine Heimat die katholische Marienverehrung vermißt. Der Tod des Poeten Günther ist offensichtlich mit Anlehnung an die Passion Christi gebildet, im Verhältnis zwischen Cornelia de Vryn und dem jungen kranken Holländer, mit dem sie aus Wien flieht, scheint die Legende vom „Armen Heinrich“ nachzuklingen, Wenn in Marias Tagebuch („Frau Maria“) die ganze Günther-Geschichte nochmals wiedergegeben wird, so ist das fast wie ein Selbstzitat der Dichterin zu werten, und formal ist die Lektüre dieses Tagebuchs eine Abwandlung des gleichen Motivs im Nita-Kreis zu nennen. Die bewußte Verzahnung mancher Dichtungen untereinander erinnert an die Gepflogenheiten der großen Nomanciers, vor allem Balzacs, aber auch Zolas, Freytags, Hermann Bahrs, Ertls, die in verschiedenen Büchern gleiche Figuren auftreten lassen, an Ereignisse erinnern, kurzum so tun, als müßte der Leser ganz in ihrer Welt leben. So wird etwa in „Graf Reichard 160

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