75 Jahre Enrica von Handel-Mazzetti 1946

ür Conr. Ferd. Meyer, der zu dieser seiner Lieblingsepoche mehr im Verhältnis der Ergänzung stand. Scharfe Gegensätzlichkeit, Wucht und große Gebärde, Über¬ höhung der Wirklichkeit, Farbigkeit und Bewegtheit, das paßte alles besser in die Vergangenheit, in barocke Zeit als in die Gegenwart und wurde in moderner Umgebung erst mit der neuen Schau des Expressionismus und seiner erstatischen Mitteln bewältigt. Dieser Zug zum Pathetischen und Heroischen, der die Handel¬ Mazzetti zu gewisser Typisierung führt, verleiht ihrer Kunstübung einen ideali¬ tischen Einschlag, der sie von fern an Corneille und Schiller reiht. Auch Handel-Mazzetti hat nun die Gepflogenheit des Geschichtsromanes bei¬ behalten, eine erfundene Handlung zu geben und große geschichtliche Ereignisse und Gestalten in den Hintergrund zu stellen. Erst in der „Stephana“ wird Kaiser Matthias beschworen, und auch da durchaus nicht als Hauptfigur. Für ihre Hauptgestalten wahrt sich die Dichterin das Recht freier Erfindung und Durch¬ bildung. Im „Deutschen Helden“ wird Erzherzog Karl zum richtenden Gewissen, in „Frau Maria“ tritt August von Sachsen und die Gräfin Aurora von Königs¬ marck auf, in „Graf Reichard“ Kaiser Leopold I., Rüdiger von Starhemberg, der schon in „Die Waxenbergerin“ hineinspielte, und sein Sohn. Es sind auch das schließlich immer wieder Gestalten, die nicht zu den eigentlichen Geschichts¬ trägern zählen und die ohne große Gefahr auch zurecht gebogen und umgeformt werden können. Von bedeutenden historischen Ereignissen, die wirklich dargestellt sind, kommt nur die Belagerung Wiens 1683 in Betracht („Waxenbergerin“), alles andere bleibt im Hintergrund, obwohl auf manches angespielt wird und vieles Erwähnung findet, so daß aus solchem Mosaik eindringlichstes Zeitkolorit ersteht. So wahrt sich die Dichterin ihre Freiheit, die sie braucht, um ihre Ideen beleben zu können. Diese Gestaltung vollzieht sich nun weitgehend mit den Mitteln eines geschicht¬ lichen Naturalismus, der selbst in gelehrten Kreisen vielfach Bewunderung er¬ regte. Man ahnt, wie schwierig die Wiederbelebung einer vergangenen Epoche ist, zumal es sich ja nicht um bloße Schilderung, sondern um Darstellung handelt, wie vielfältig schon die Fragen sind, die sich allein bei der Zeichnung der Dingwelt auftun, vom Wohnraum und Möbelstück angefangen bis zur Kleidung, Lebens¬ gewohnheit, Denk- und Sprechweise. Handel-Mazzetti versteht es, diese Dinge mit höchster Kunst lebendig werden zu lassen. Sie kennt nicht die in Geschichts¬ romanen häufig übliche tote Milieuschilderung, sie setzt das alles mit der Handlung, nit dem Gespräch in unmittelbare Beziehung. In kleinen Neben- und Zwischen¬ bemerkungen, die man bei der theatralischen Darstellung den szenischen An¬ merkungen des Bühnenstückes gleichsetzen könnte, werden die Dinge des Alltags gegeben. Dabei wird aber mit solcher Genauigkeit vorgegangen, daß nicht nur auch an unvertrauten Ortlichkeiten die Ortsverhältnisse genau stimmen (Quedlin¬ burg in „Frau Maria“), sondern das sogar gelegentlich in Form einer Anmerkung auf die geschichtliche Grundlage verwiesen wird (vergl. etwa in „Graf Reichard“ I., 69 der Hinweis auf die Geschichtlichkeit der Mater Alexia de Jonghen, ferner auf den Umstand, daß bei den Wiener Ursulinen ein Alexiusspiel mehrfach aufgeführt worden sei, das sich aber nicht erhalten habe, und daß dessen Verfasserschaft eben Alexia de Jonghen zuzumuten wäre). Hier wird geschichtliche Wahrheit mit wissenschaftlichem Auge gesehen, was als Überrest früherer geschichtlicher Noman¬ 159

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