75 Jahre Enrica von Handel-Mazzetti 1946

Phantasie des Dichters möglichst viel Freiheit. Eine erfundene Handlung, die sich zwischen erfundenen Gestalten abspielte, wurde geschichtlich gemacht, indem man sie in die Vergangenheit versetzte und Zeitverhältnisse, Umwelt, Kostüm usw. möglichst getreu zu schildern suchte. Solche Schilderung konnte schließlich im archäologisch-antiquarischen Noman zum Selbstzweck werden, die Wissenschaft drohte die Dichtung zu erschlagen. Immer aber brach persönliche oder zeitbedingte Problematik durch, sei es in der Spannung zwischen Schicksal und Vorsehung, Politik und Sittlichkeit bei Conr. Ferd. Meyer, von unglücklicher Liebe und Ent¬ sagung in Scheffels „Ekkehard“, von Größe der deutschen Vergangenheit und Aufstieg des Bürgertums bei Gustav Freytag. Daher leitet sich aber eine weitere Zwiespältigkeit ab. Warum historisches Kostüm, wenn Gegenwartsproblematik sich spiegelt oder persönliches Anliegen verhandelt wird? Maske oder Flucht Freiheit in der Wiedergabe geschichtlicher Ereignisse war ja nur eingeschränkt möglich. Umdeutung des Charakters großer geschichtlicher Persönlichkeiten fast noch weniger erlaubt. Erst spät treten daher große geschichtliche Gestalten in den Vordergrund und werden in den historischen Romanbiographien jüngster Ver¬ gangenheiten zu Hauptfiguren gemacht. Dazwischen aber sind so viele Stufungen möglich, daß sie sich kaum recht erfassen lassen. Aber es sind bloß Grade, nicht Wesensverschiedenheiten. Mag nun Umwelt, Ereignis, Auffassung des Geschicht¬ lichen noch so geglückt sein, eines bleibt doch unüberwindliches Hindernis für den Dichter geschichtlicher Romane: die Seelenzeichnung seiner Gestalten. Denn das Seelische einer fernen Zeit wirklich lebendig werden zu lassen, ist dem Menschen verwehrt. Wie Odysseus muß er die Schatten der Historie mit Blut tränken damit sie Leben gewinnen, aber es ist sein eigenes Blut und damit sein eigenes Leben, von dem er ihnen gibt. Daher lebt in jeder dichterischen Gestalt das Leben ihres Schöpfers, Objektivität gibt es in der Kunst nicht, auch nicht im geschicht¬ lichen Roman, und der objektive Dichter nimmt nur kühlere Distanzhaltung gegen über seinen Figuren ein, die aber trotzdem seine Gebilde bleiben. Je nachdem, ob zuschauendes Gegenüberstehen oder intensivste Vergegenwärtigung, das ist eine Frage des Temperaments und des Stils, keine grundsätzliche. Handel-Mazzetti geht bei ihren Geschichtsromanen auf stärkste Intensivierung des Miterlebens aus. Sie greift zum Geschichtlichen, um ihre Problematik in einer objektivierenden Fernung zu gestalten und sie zugleich wieder aufs eindring¬ lichste zu vergegenwärtigen. Nicht Interesse am Stoff der Geschichte an sich, auch nicht einfach an der Geschichtsbewegung, wie etwa in Nicarda Huchs „Großem Krieg“, nicht Freude an der bunten Welt der Vergangenheit, sondern Erleichterung der Gestaltung im historischen Stoff, so parador das auch klingen mag, drängt Handel-Mazzetti zum historischen Roman. Was sie in Gegenwartsform gab, blaß, chwächlich, konventionell, sie braucht das Geschichtliche, das sie trägt und hebt. „Die moderne Sprache beengt mich“, gestand sie einmal. Es ist aber nicht nur die moderne Sprache, es ist die moderne Welt, die sie beengt. Sei es, daß sie darin ihr Zentralproblem nicht so leicht gestalten kann, weil das Religiös-Kirchliche in der neuen Zeit aus der Offentlichkeit immer mehr an den Nand, ins Private abgedrängt wird und eine andere Problematik in den Vordergrund rückt, sei es daß sie aus einer gewissen persönlichen Scheu heraus fürchtet, sich selbst unmittel¬ bar auszusprechen, wie das der Fall Conr. Ferd. Meyers war. Dabei ist aber das Barock für die Handel-Mazzetti eher Wesensausdruck als die Renaissance 158

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