75 Jahre Enrica von Handel-Mazzetti 1946

Vielleicht weist überhaupt auch die szenische Erzählung, deren Steigerung die theatralische wäre, auf romanisch-lateinische Herkunft, während die Bevorzugung des episch-sachlichen Berichts germanischer Art mehr entspräche, jehe die Saga¬ Form. Überschneidungen begegnen natürlich immer wieder. Gerade im süd¬ deutschen Bereich aber darf eine gewisse Latinität nicht außeracht gelassen werden. Wie stark war doch Barock solcher „Latinität“ verpflichtet! Denn es ist barocke Latinität, die sich bis zur Ekstatik steigert. Deutsch aber ist die Innerlichkeit und Herzhaftigkeit, die Kraft und Lauterkeit, das Sich-Versenken und die Treue zu ich selbst Geschichtlicher Roman! Das ist die Etikette. Aber welcher Problematik ist der geschichtliche Roman unterworfen! Ganz abgesehen davon, daß immer die Frage bestehen wird, wann Geschichtlichkeit beginnt und die jeweilige „Gegenwart ablöst, muß man sich stets vor Augen halten, daß „geschichtlicher Noman“ eigent¬ lich nur ein Stoffgebiet umschreibt und Stoffe der Vergangenheit, der Geschichte meint, aber sonst nichts weiter aussagt. Denn Haltung, Auffassung, Formung bleibt den weitesten Möglichkeiten überlassen, die denn auch in der verhältnis¬ mäßig kurzen Entwicklung des historischen Nomans von der Nomantik her zu erkennen sind. Denn der geschichtliche Noman des 17. Jahrhunderts war pfeudo¬ historisch, er kannte noch keine geschichtliche Haltung, ja er war so bewußt Maske der Gegenwart, daß er oft in den Schlüsselroman entartete. Mit der Nomantik erst setzt die entscheidende Neuwertung des Geschichtlichen ein. Vergangenes ist zunächst aufrüttelndes Vorbild für die geschwächte Gegenwart, bald aber Eigen¬ wert, man greift zum Geschichtlichen aus Freude am Vergangenen um seiner selbst willen mit einer leichten Betonung der „guten alten Zeit“, also Flucht vor und aus der Gegenwart, vielfach Kennzeichen bürgerlicher Haltung. Dann aber dient Geschichte als Maske für Darstellung von Zeittendenzen, Geschichte als Parallele, nicht mehr als Gegensatz. Dies wird weitgehend die Haltung des Liberalismus, wie vielleicht jeder vorwärtsdrängenden Bewegung. Ob Konrad Bolanden oder Wilhelm Heinrich Riehl oder Feliz Dahn schreibt, alle spüren und verwerten in der Geschichte Tendenzen ihrer Zeit, weshalb nicht nur bestimmte Problemkreise, ondern auch bestimmte geschichtliche Gestalten zeitweise in den Brennpunkt des Interesses rücken. Zeitproblematik und persönliche Problematik kann so im ge¬ chichtlichen Stoff ihre Prägung suchen. Die Gefahr tendenziöser Behandlung liegt natürlich im geschichtlichen Stoff immer nahe. Denn Geschichte kann mi߬ deutet, umgebogen, gefälscht und entstellt werden. Immer wieder wird auch der zünftige Historiker vom Standpunkt der Wissenschaft dem Dichter seine „Fehler“ vors Auge rücken. Denn der geschichtliche Roman stellt eben einmal eine Über¬ schneidung von Wissenschaft und Kunst dar. In der Verwendung des Geschicht¬ lichen sind im Verlaufe der Entwicklung nun die Anforderungen immer strengen geworden. Gab sich die Nomantik noch mit der ungefähren Wiedergabe der ge¬ chichtlichen Welt zufrieden, so wurde mit dem reichlicheren Fließen der geschicht¬ lichen Quellen und mit dem Erstarken der Wirklichkeitsrichtung die Forderung nach Geschichtstreue immer schärfer erhoben. Letztes Ergebnis war dann die Nach¬ ahmung geschichtlicher Quellen durch den Dichter, die Chronik, wie das der pommersche Pastor Wilhelm Meinhold versuchte. Der Geschichtsroman rückte im Gefolge Walter Scotts die großen historischen Erscheinungen und Begebenheiten in den Hintergrund und bewahrte dadurch der 157

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