75 Jahre Enrica von Handel-Mazzetti 1946
läßt sich das noch spüren, man denke etwa an Fogazzaros „Kleinwelt unserer Zeit“ (I piccolo mondo moderno. 1901), selbst an Manzonis „Verlobten“ läßt es sich noch erkennen. Der idealistische Glaube etwa Schillers, weitgehend von christlichen Beständen genährt, prägt als säkularisiertes Christentum in mancher Hinsicht ähnliche Formen aus, so daß es wieder fast natürlich erscheint, wenn das Thema des „Deutschen Helden“ sich mit dem des „Kampfs mit dem Drachen berührt („Und einen schlimmern Wurm gebar dein Herz, als dieser Drache war"), wie auch das Sand-Problem im Tell, auf den im „Deutschen Helden“ ausdrück¬ lich verwiesen wird, und gegensätzlich in der Parricida-Szene von Schillers Schau¬ spiel vorgebildet ist. Selbst die Neigung zum Märtyrerstück, die Steigerung ins Pathetisch¬ Heroische teilt die Handel-Mazzetti mit Schiller und mit allen Dichtern, die eine Glaubensüberzeugung sich verkörpern lassen. Es ist ja nicht gleigiltig, auf welche Dichter und Dichtungen Bezug genommen wird. Bei Handel-Mazzeti findet sich kaum ein Hinweis auf Goethe, wohl aber auf Schiller, Günther, Körner, Kleist und selbstverständlich auf manchen barocken Dichter. Man müßte das einmal zu¬ sammenstellen, es würde einiges verraten. Da Günther sich aus dem Barocken nur zögernd löst, Schiller aber barocker Welt immerhin noch verhaftet bleibt (man denke nur an das Märtyrerthema der „Maria Stuart“ und an den Opfer¬ Sühne- und Siegestod der Jungfrau von Orleans), so liegen die Zusammen¬ hänge offen. Das alles erklärt auch das Verhältnis der Dichterin zur Welt der Wirklich¬ keit. Man hat, ausgehend von der oft peinvollen Schilderung von Martern und Grausamkeiten schon bald darauf gedeutet, daß die Kunst der Handel-Mazzetti aus dem Naturalismus erwachsen sei. Gewiß, erwachsen und ohne ihn kaum zu denken, aber nicht in ihm aufgegangen. Denn die Übersteigerung, die Übertreibung und Überhöhung des Wirklichen, wie sie die Nomankunst der Handel-Mazzetti in teigendem Maße zeigt, kann nie und nimmer Naturalismus sein. Die spärliche Verwendung epischer Mittel in umfangreichen Büchern, das auffallende Hervortreten des Gespräches in verschiedener Funktion, die Umsetzung elbst der Schilderung in Selbstgespräch, in „erlebte Rede“, gibt einen Fingerzeig. Immer wieder werden Ereignisse von verschiedener Seite beleuchtet. Das ist keine einfache Linie, sondern ein vielfach gebrochener Bogen, ein Gebilde, bei dem nicht erzählt, sondern wesentlich gespielt wird. Immer wieder stößt man auf ähnlichen Baugrundsatz: Schauplatz, andeutende Beschreibung der Figuren, die meist schon in Bewegung sind, und dann Gespräch, und zwar Gespräch mit individuellster Färbung der Rede, durch Sprachschatz, Verwendung von Fremdsprachen, Mundart, Tonfall, Einschaltung von Liedern und Gesängen, Heranziehung liturgischer Formeln und Gebete. Solche Art, ganz auf das Szenische gestellt, ist eine Abart des Nomans, die aber nicht dramatisch, sondern theatralisch oder szenisch genannt werden möge. Bei aller Wucht widerspricht der wiederholte vielfache Ansatz, das Hin- und Herwälzen einer Tatsache, wie man es nennen könnte, dem Bau des Dramas. Man denke etwa, wie in „Graf Reichard“ die Kränkung Cornelias erst bei den verschiedenen Nonnen, dann beim Grafen und bei dessen Vater erörtert wird und ihre Folgen zeitigt. Die scheinbare Objektivität der Erzählung wird aber aufgelockert durch teilnehmende Zwischenreden der Dichterin, Wendung an ihre Figuren, Bemerkungen, die manchmal wohl im Sinne der eingeführten Per¬ 154
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