75 Jahre Enrica von Handel-Mazzetti 1946

aus („draußt", „gestert"). Andere Wortformen sind nicht der Mundart, sondern den alten Quellen entnommen Auch bei der Wahl der Worte greift Handel-Mazzetti tiefer in den Schatz der Chroniken als in den der Mundart. Die kleinen Füllwörter aber heimeln uns durch ihre mundartliche Gebräuchlichkeit an: „eh, gel, halt, han?“. In einem Falle verwechselte die Schriftstellerin die typisch bairischen Wochentagsnamen: die Apollonia gebraucht für den „Dienstag“ das richtige Mundartwort „Erchtag“, den Jakob Zettl läßt sie aber für denselben Wochentag fälschlich das Wort „Pfings¬ tag“ (eigentlich „Donnerstag") gebrauchen (S. 304). Syntaktisch fällt vor allem der weitgehende Ersatz des Dativs durch den Akkusativ auf, eine Eigenheit, die ganz dem Mundartgebrauch entspricht: „mit die Katzenaugen, zu die Mäus“. Doppelte, ja dreifache Negation ist allgemein üblich: „nixi nit, nie niri nit". Die ungewöhnlichen Wortfolgen und der weit¬ gehende Ausfall der Pronominen finden allerdings wieder mehr in den zeit¬ genössischen Quellen ihr Vorbild. Die in dem Noman vorkommenden Nichtsteyrer, die Soldaten also, unter¬ cheiden sich von den Steyrern nicht durch andere räumlich bedingte Sprachformen ondern durch ihre feinere Sprache. Die gröberen Mundartelemente treten in ihrer Sprache seltener auf. Die bayrischen Soldaten Herlibergs, deren Heimat¬ orte Passau und Braunau sogar erwähnt werden, sprechen dieselbe Mundart wie die Steyrer. Mit der Betrachtung der Sprache der Soldaten streiften wir bereits die dritte, die soziale Problemstellung der Mundartforschung. Zwischen den beiden Festpolen Mundart und Hochsprache flimmert das breite Feld der Verkehrssprache. Die Mundart liegt fest verwurzelt in der Tradition der Geschlechter und in der Ge¬ meinschaft des Naumes. Sie ist eine feste Größe und jede Abweichung von ihr vird von den Mundartsprechern, vor allem von den Bauern, als fremd oder als — feiner empfunden. Diesen Glanz der Feinheit erhalten bestimmte Sprach¬ formen von dem zweiten Festpunkt im Leben der Sprache eines Volkes: von der Hochsprache. Ihre schriftliche Festform begann sich seit dem Beginn der Neuzeit das deutsche Sprachgebiet zu erobern, ihre mündliche hingegen, das heißt die ein¬ heitliche, bindende Aussprache des Deutschen, fand erst um die letzte Jahrhundert¬ wende ihre Fixierung. Der Abstand zwischen den beiden Extremen der Mundart und der Hochsprache wird von der Verkehrssprache überbrückt; sie ist eine chillernde, schwer zu fassende Sprachstufe. Sie kennt keine feste Norm, je nach Umgebung, Stimmung des Sprechers oder Zweck nähert sie sich einmal mehr dem Gipfel der Hochsprache, ein andermal dem Boden der Mundart. Sie gilt dem Mundartsprecher als fein, dem Sprecher der Hochsprache als grob und bäuerlich. Sie ist die wertbetonteste, subjektivste Sprachstufe. Nicht nur die verschiedenen Bildungsstufen zeichnen sich durch eine verschieden starke mundartliche, beziehungs¬ weise hochsprachliche Färbung der Sprache aus, auch die Sprache eines Einzel¬ menschen durcheilt je nach dessen augenblicklicher Gefühlslage und Gesellschaft die verschiedensten Schattierungen. Dabei folgt fast jeder Mensch seiner eigenen Ge¬ setzlichkeit. Die Tatsache, daß die Verkehrssprache sowohl in jedem Einzelmenschen, als auch in der Gemeinschaft einen höchst elastischen Schwingungsbereich besitzt, läßt sie Möglichkeiten sprachlicher Außerung nahezu unentwirrbar erscheinen. 142

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