75 Jahre Enrica von Handel-Mazzetti 1946

Gesichtskreis eintrat. Es ist der unglückliche Striegauer Johann Christian Günther. Mit ihm trat sie bewußt in direkte Beziehungen zu Schlesien, seiner Landschaft, seiner Mundart. Günther ist die Persönlichkeit, die sie in einer neuen Schaffens¬ periode mit elementarer Gewalt anzog. Hatte sie bisher ihr eigenes Ich sorgsam verhüllt, so läßt sie 1928 ein Buch erscheinen, das den Namen des schlesischen Tannhäuser trägt. Ihm verdanken wir jenes Bekenntnisbuch der Handel¬ Mazzetti, in dem sie der Öffentlichkeit tiefen Einblick in ihr Innenleben und ihre Schaffensart gewährt. Wie kommt es, daß Günther sie so mächtig anzog? Sie hat auf einem Faksimile die überraschende Feststellung machen können, „daß Günther vollkommen in meinem Stile variierte, interpolierte, und daß er ganz wie ich, eine Stelle auch drei- bis viermal änderte, bis sie ihm die letzte Präzision zu haben schien. „Das Herausarbeiten der Gedanken ist meiner Feilarbeit immer und immer wieder so ähnlich, dann aber auch das firme Konzept bei den allerbesten Stellen, daß ich mir beim Lesen immer wieder sagte: nun wird es mir ganz klar, warum mich diese Persönlichkeit so geheimnisvoll durch Jahre und Jahre anzog und beschäftigte. Das ist ja, was den inneren Rhythmus und die äußere Technik des Schaffens anbetrifft, mein „alter ego“! Von da an läßt sie die Persönlichkeit Günthers nicht mehr los. Sie über¬ trägt diese starke Hinneigung zu Günther auch auf die schlesische Landschaft. Als sie einige Ansichten der wichtigsten schlesischen Günther-Stätten (Striegau, Schweidnitz, Hirschberg) erhält, schreibt sie begeistert: „Die letzte Kartenserie Striegau) ist die schönste von allen: Immer wieder vertiefe ich mich in diese eigen¬ artige, ernste, düstere Landschaft; so mußte das Heimatnest des armen Unglück¬ lichen aussehen, das er so ergreifend besingt in seinem wehvollen Lied: „Hier, wo mich niemand weiß als Gott und meine Not Hatte schon vor Niederschrift des Günther-Buches dieser sie unmittelbar zur Schaffung der Sand-Trilogie veranlaßt, so wächst in „Frau Maria“ die gewaltige Figur des Erzpoeten Günther noch einmal empor. Sie zeigte dabei dichterische Selbstverleugnung genug, sein von vielen Flecken gereinigtes Bild aufleuchten zu lassen, wie es sich ihr in der Zwischenzeit nach den Ergebnissen der letzten Günther¬ Forschung darbot. Schlesien tritt noch einmal in Erscheinung, und zwar in der Gestalt des Bruders von Günthers Herzensfreund, Schubarth aus Lauban. Dieser Schubarth redet verblüffend echt sein Laubaner „Schläsch“. Die Dichterin gibt in einem Briefe Aufklärung darüber: „Für die Mundart“, schreibt sie, „habe ich viel studiert. Und zuletzt wurde mir der schlesische Dialekt fast so lieb wie mein Altösterreichisch. Schlesien hatte stets an der Entwicklung der deutschen Literatur hervor¬ ragend teil. Daß diese Einflüsse auch heute noch wirksam sind, zeigt sich an einer der größten lebenden Dichterinnen deutscher Zunge: an der Österreicherin Enrica von Handel-Mazzetti Als die Dichterin an ihrem 60. Geburtstag in aller Welt hochgefeiert wurde, hatte Schlesien einen nicht geringen Anteil daran. In unzähligen Publikationen, Briefen und Telegrammen huldigte Schlesien der österreichischen Jubilarin. Wieder war es der Geist Günthers, der nach dem Geständnis der Dichterin aus den Schlesiern sprach. Zehn Jahre später wurde von der damaligen Reichsregierung das unver¬ ständliche, blamable und wahrhaft kulturschänderische Verbot aller Veröffent¬ 135

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2