75 Jahre Enrica von Handel-Mazzetti 1946
Enrica von Handel=Mazzetti und Schlesien. Ein Beitrag zu den kulturellen Beziehungen zwischen Schlesien und dem Donauraum. Ludwig Wehse. Mannigfache Beziehungen kultureller Art sind es, die die Südostecke des Neiches, nämlich Schlesien, mit Österreich verbinden. Schlesien wies als Durch¬ gangsland in früheren Jahrhunderten auch stets den Weg von Osten nach der großen Metropole im Südwesten. Daß sich dabei weitgehende kulturelle Über einstimmungen im schlesischen Raum mit dem alten Kulturboden Österreichs ergeben, ist eine natürliche Folge. Besonders deutlich wird dies bei der Kunst¬ betrachtung einer freudig schaffenden Epoche: des Barock. Hüben und drüben die genauesten Parallelen. Melk und Klosterneuburg könnten leicht an der Stelle von Leubus und Grüssau stehen und umgekehrt. Während auf dem Gebiet der darstellenden Kunst die Kräfte auf beiden Seiten gleich stark vertreten waren, können wir in geistesgeschichtlicher Hinsicht behaupten, daß Schlesien in dieser Zeit eine Führerstellung einnahm Um die Jahrhundertwende trat in dem Bruderland Österreich eine Dichterin auf, die in ihrer ersten Schaffensperiode gerade das Zeitalter des Barock als Feld poetischer Durchtränkung wählte: Enrica von Handel-Mazzetti (geboren am 10. Jänner 1871 in Wien). Sie hat in ihren Romandichtungen den Geist des Barock mit einem bis dahin ungeahnten Einfühlungsvermögen, mit einer Ge¬ taltungskraft und geschichtlichen Treue heraufbeschworen, die bewundernswert und einmalig ist. Bei der Versenkung in den Geist des Barock konnte sie un¬ möglich an den schlesischen Menschen, die dieser Zeit den Stempel aufdrückten vorübergehen. Da scheint es zunächst der Glogauer Andreas Gryphius zu sein, der seinen Einfluß auf die nach- aber mehr neuschaffende Dichterin ausübte. Die Kunst der Baronin Handel ist zutiefst im Religiösen verankert. Die tiefe Glau¬ bensinnigkeit in einer diesseitsnahen Zeit hat sie mit Gryphius gemein. Wenn Gryphius singt: „Selig ist der Geist, den eines Toten Gruft zum Leben weist“, so finden wir bei Handel-Mazzetti als Leitmotiv aller ihrer Werke die letzte Sinn¬ gebung menschlichen Lebens, die Hinkehr der Seele zu Gott. Die Dramen des Schlesiers sind in gereimten Alexandrinern geschrieben, eine Versart, die vor ihm Martin Opitz aus Bunzlau empfohlen hat; Handel-Mazzetti verwendet als Einlage in die historische Dichtung mit genialer Geschicklichkeit diese Versart, um das Zeitkolorit bis ins feinste zu treffen Charakteristisch für die Dichtung der Handel-Mazzetti ist ein starker Zug ins Mystische. Neben den mittelalterlichen Mystikern hat sie gewiß eifrig auch den — tiefsinnigen Breslauer Johann Scheffler als Angelus Silesius nimmt er einen ehrenvollen Platz in der Geschichte der deutschen Literatur ein — studiert, der einerseits wieder stark von dem frommen, grüblerischen Görlitzer Schuster Jakoh Böhme beeinflußt wurde. Waren die Einflüsse dieser Schlesier auf unsere Dichterin noch allgemeiner Natur, so ändert sich dies mit einem Schlage, als ein anderer Schlesier in ihren 134
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