75 Jahre Enrica von Handel-Mazzetti 1946

ihres Volkes und dessen Weltanschauungen. Sie stellt dieses Ringen auf seelischen Untergrund, das so oft an konfessionellen und nationalen Gegensätzen gerade in Österreich ausbrach und sich letzten Endes immer wieder als unlöslich erwies wenn nicht die Religion der Liebe ein entscheidendes Wort mitsprach. Aus dieser Lehre des österreichischen Zusammenlebens, das in den welt¬ anschaulichen Schattierungen ihrer Vorfahren und Umwelt an Handel-Mazzettis Seele vorüberzog, erwuchs ihr das eigentliche Thema ihres Dichtens: „Magna res est caritas!“ Es stellte sie über alle Parteien, hob sie über die Grenzen ihrer altösterreichischen Heimat hinaus und adelte sie zur Bahnbrecherin einer schöngeistigen und seelischen Mission Österreichs. Darauf deutete schon Peter Rosegger in seinem „Heimgarten (1906) hin, als er von ihren ersten Werken schrieb, daß sie für den schweren inneren Konflikt, den das Volk noch durchleide, die Lösung gefunden habe, nach der es so lange sucht und schreit. „Möge diese Lösung von unserem Volke erkannt und in die Tat umgesetzt werden!“ Zwischen den beiden Weltkriegen betonten etliche Vertreter fremdsprachiger Literaturen, wie B. der geistliche Kulturhistoriker und Kritiker Pierre Lorson und der frei 3. sinnige Professor Henri Buriot-Darsiles, daß gerade Handel-Mazzettis große historische Romane einer geistigen Annäherung und gegenseitigen Anerkennung der europäischen Völker und Kulturen frommen könnten. Zwei Weltkatastrophen unserer Zeit gaben solchen Anschauungen recht und wiesen dem mitgerissenen und zu tiefst betroffenen Österreich neuerdings eine Rolle zu, abwehrend und aus¬ gleichend wie der Alpenwall zwischen den größten Gegensätzen zu wirken. Schon am 23. März 1929 machte der Sozialist Dr. E. F. in seinem Prager Blatt bei Besprechung des Handel-Mazzettischen Günther-Buches aufmerksam, wie sehr ich ihr tief menschliches Fühlen in so vielem mit dem seiner Menschenklasse berühre, und erstaunte darüber, daß sie dessen Haß gegen die entmenschte und entzauberte Welt nicht teile. Den wahrhaft kosmopolitischen Zug ihrer Menschenliebe und ihres ganzen Schaffens und Wirkens, diese Sehnsucht und Lebenshaltung nach einer reinen allem Guten und Schönen die Nichtung gebenden Menschlichkeit, legte Handel¬ Mazzetti aus einer Überlieferung und in einer Art dar, die wohl nur auf öster¬ reichischem Boden möglich waren. Man mag sich einen Ausgleich zwischen her¬ kömmlicher Kirchlichkeit und dem Ende der Aufklärung in Österreich, genannt Los¬ von-Rom-Bewegung, zwischen Heimatkunst und historischen Themen, zwischen Wiedergeburt des Barock und zeitgenössischer Problematik vor Augen stellen, wie man will, jedem dieser schicksalhaften Entweder-Oder ist Handel-Mazzetti im eigenen Leben begegnet und in ihrem Schaffen gerecht geworden, nicht in einem Hochmut, vor dessen Unerbittlichkeit keine Schilderung zu aufwühlend, keine Leiden unerträglich waren, sondern mit einer Liebe und Leidenschaft, die dem Lebensgrund unserer eigenen und der europäischen Zukunft unentbehrlich bleiben. Diese Frau hatte den Mut der Vollgewalt des Ausdrucks, der Anschaulichkeit und Eindringlich¬ keit des Bildes und die Unerbittlichkeit des dramatischen Erlebens des blutigsten Sterbens. In der Fülle geschichtlicher Überlieferungen, Bauten und Bilder, die sich in ihrer engeren österreichischen Heimat zusammendrängen, war sie in ihrem Element, erhob sich ihr Gemüt und wurde ihre Schilderungskunst auf das gro߬ artigste herausgefordert. Hiebei trat der historische Barock zurück vor dem leben¬ digen, zu neuer künstlerischen Tat berufenen. 131

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