75 Jahre Enrica von Handel-Mazzetti 1946
Gestalt. Gleichsam von allen Seiten, stürmt er auf sie ein, er studiert den Kopf, erkämpft sich das Bildnis, gewinnt die souveräne Lässigkeit im Hinsetzen des Aktes. Schließlich dringt er in den innersten Ring des Mysteriums und setzt menschliche Gestalten kunsterfüllt zu einander in Beziehung Da er sich vom Studienblatt weg vor die Leinwand stellt, die kalt ist wie eine Felswand, muß er neuerdings von vorne beginnen. Es gilt nicht nur die bisher gezeichneten Gestalten mit Farbe zu erfüllen, wie ein Baum im Frühling mit Blättern und Blüten erfüllt wird, sondern das Gezeichnete, das im leeren Naum der Papierfläche schwebte, in die Wirklichkeit, in eine Wirklich¬ keit von Farbe zu setzen. Das ist seine Aufgabe und seine einzigartige Lösung. Er malt zunächst Bildnisse, das heißt, er setzt eine Gestalt in Brustbild oder Knie¬ stück vor einen Hintergrund. Aber wenn er damit fertig ist, sind Mensch und Hintergrund eine künstlerische Einheit, ein einziges Lodern von Farbe, so daß der an den üblichen Hintergrund gewöhnte und nicht eben verwöhnte Betrachter zuerst den Grund und dann erst den dargestellten Menschen sieht. Beide schmelzen in wunderbarer Harmonie ineinander. Erst in den letzten Lebensfahren hat May sich zu Kompositionen auf der Leinwand vorgetastet. Gleichlaufend damit weicht er allmählich vom Impressionis¬ mus ab, der ihn nahe den Höhen eines Renoir geführt hat, und sucht sich eine ihm völlig eigene Stilform zu gewinnen. Sie wurde als expressionistisch bezeichnet, ist aber nur eine Annäherungsform dieses Stiles, die mit impressionistischen Mitteln versucht wird. Wie schon früher vermerkt, gehören diese beiden Kunstgattungen völlig verschiedenen Grundhaltungen an und der Versuch, von einer zur andern überzugehen, mußte für ein rein ausgeprägtes Künstlertemperament notwendig scheitern. Unzählige Beispiele haben dies bewiesen und namentlich dadurch den Expressionismus mit Fehlleistungen belastet. Durch tragische Bedrückung der deutschen Kunst in der jüngst verflossenen Zeit ist nunmehr schon historische Erkenntnis des Expressionismus noch nicht völlig gewonnen, obwohl bereits seine Anfänge ein halbes Jahrhundert zurückliegen Sie wird aber für die Beurteilung des letzten Schaffens von Matthias May erforderlich sein und vielleicht die Frage klären, weshalb einem malerischen Genie von solchem Rang, wie sie die deutsche Kunst wahrlich nicht oft besessen hat, die Anerkennung versagt geblieben ist und noch immer bleibt. An Bemühungen Ein¬ ichtiger, sie herbeizuführen, hat es nicht gefehlt: knapp nach dem ersten Weltkrieg wurde May in einer Ausstellung im Linzer Landesmuseum repräsentativ gezeigt. 925 folgte eine Kollektivausstellung in Linz, 1926 veranstaltete die Galerie Thannhauser in München seine Nachlaßausstellung, 1928 wurden seine Hand¬ zeichnungen in der staatlichen graphischen Sammlung in München gezeigt und zuletzt veranstaltete im Jahre 1931 der Münchner Kunstverein eine große Gedächt¬ nisausstellung. In seiner zweiten Heimatstadt Linz hat sich May jedoch nicht nur durch zahlreiche Werke in öffentlichem und privatem Besitz bleibendes Ge¬ dächtnis gesichert, sondern auch durch seine Schüler, von denen Rudolf Stein¬ büchler, Vilma Eckl und Rudolf Feischl heute zweifellos die bedeutendsten Maler ihrer Heimat sind. 102
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