75 Jahre Enrica von Handel-Mazzetti 1946

Die Handzeichnung, als selbständige Kunstform entwickelt, ist selbst in der deutschen Kunst, die ihre besten Leistungen in der Graphik erzielt hat, von erstaun¬ licher Seltenheit. Alle Maler haben zu jeder Zeitepoche auch Zeichnungen aus¬ geführt, unter den bedeutendsten ist anscheinend nur Velasquez, von dem keine bekannt wurde. Sie schufen jedoch ihre Blätter entweder als Vorstudien zu Ge¬ mälden oder suchten die Wirkung von Gemälden mit zeichnerischen Mitteln zu erreichen. Von Illustrationen und Vorzeichnungen zu Werken der vervielfältigen¬ den Graphik abgesehen, ist die Handzeichnung als selbständiges, eigenen Gesetzen unterworfenes Kunstwerk nur von verhältnismäßig wenigen Meistern, darunter als bedeutendstem Nembrandt, gepflegt worden. Sie wurde auch von diesem Gesichtspunkt aus noch nie erforscht. Da die Zeichnung im wesentlichen auf der Linie beruht, muß sie von vornherein auf die Illusion der Wirklichkeit verzichten. Sie gibt gleichsam nur eine kurze Notiz des Beobachteten. Je weniger Mittel jedoch zu einer Darstellung aufgewandt werden, desto mehr künstlerische Arbeit muß vor ihr geleistet werden, wie ja bekanntlich geäußert wurde, daß Kunst eigentlich im Weglassen bestehe. Gerade durch diese Beschränkung wurden im Lauf der Zeit die formalen Möglichkeiten der Zeichnung auf das äußerste an¬ gespannt, wie viele Anwendungen des Striches allein wurden nicht schon erprobt Von der körperlichen Umrißzeichnung bis zu jenen, die bewußt den Umriß ver¬ meiden und gleichsam aus freischwebenden Schraffierungen bestehen, wie sie etwa Stefano della Bella schuf, ist eine weite Spanne der Möglichkeiten. Der Strich selbst, der einmal als klare Linie im reinen Fluß ohne Unterbrechung geführt wird, dann wieder als Aufeinanderfolge kurzer nervöser Haken erscheinen kann, ist unerschöpfliches Ausdrucksmittel. Die Zeichnung schwankt wie die Schrift, die ja als Tochter jener gelten kann, zwischen Kalligraphie und ausprägender Charakterschrift. Ahnlich der Schrift wird von der Zeichnung ein gewisser Grad von Leichtigkeit erwartet, etwas schnell Hingeworfenes, ja selbst Flüchtigkeit; hier sind nebst anderswo die Abgrenzungen gegenüber den vervielfältigten Graphiken, besonders im Kupferstich zu suchen. Ein Phänomen der Zeichenkunst, also einer der seltenen Fünger dieser namen¬ losen Muse, war Klemens Brosch. Er hat sein ganzes Leben lang gezeichnet, man kann sagen nichts als gezeichnet. Er war von einer Manie des Zeichnens besessen, wie es Adolph Menzel gewesen ist. Wie diesem war alles, was ihm vor Augen trat, für Brosch Objekt seines Stiftes. Wie Menzel zeichnete er, als ob Zeichnen eine Funktion seines Wesens wäre, gleich Atmen oder Sehen. Brosch zeichnet, als ob seine Augen photographische Linsen wären, nur noch unerbittlicher wirklichkeitsnäher, kälter; sozusagen objektiver als das Objektiv. Die Feder oder der Stift, die von seiner Hand geführt werden, bekommen wie von selbst die Schärfe von Seziermessern. Er schneidet aus der Wirklichkeit sein Motiv heraus und läßt es im leeren Raum schweben, das ist in jenem unumgänglichen Medium der Zeichnung, das von der Papierfläche gebildet wird. Die Art des Ausschnittes st allerdings für Brosch das erste Wesentliche. Sein Auge ist beflügelt wie bei andern die Phantasie; es erhebt sich in Wolkenhöhe und sieht die winzig wimmeln¬ den Menschlein, hingestreute Spielzeughäuser, das wellengekräuselte Meer. Es schweift aus der Tiefe an perspektivisch aufgestellten Baukolossen vorbeit, sieht Menschen wie Schwalben an Dachständern von Telegraphenleitungen hängen. In einer hundertstel Sekunde blitzt diese Pupille auf und hält einen Expreßzug im 98

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