Chronik der Steyrer Liedertafel von 1875 bis 1890

159 Tief ergriffen zollten die Zuhörer dem Redner reichen Beifall, der sich fortsetzte, als der Vorstand des Wiener Männer– gesangs -Vereines Herr Dr. Olschbauer die Tribüne bestieg und ungefähr folgendermaßen sprach: „Die Stätte, die ein guter Mensch betrat, ist eingeweiht für alle Zeiten", spricht der Dichter und hier weilte auch ein gottbegnadeter Mensch, dem dio Welt einen so reichen Schatz von Liedern verdankt. Die Kunst ist umso wirkungsvoller, er– habener, je genauer und natürlicher sie die Gefühle wiedergibt, welche des Menschen Brust bewegen. Und Franz Schubert schöpfte aus dem unerschöpflichen Born der Menschenseele, und was sie bewegt während ihres Erdenlebens, wusste er wie Perlen in Musik zu fassen. Das Lallen des Kindes im Wiegenliede, die übermüthige Lebenslust des Knaben, die Liebe des Jünglings, die Kampfes- und Thatenlust des Mannes, bis zum todesahnenden Grabeslied, alles hat Schubert mit der Empfindung eines warm und wahr fühlenden Herzens in Tönen wiedergegeben." Die ,Steyrer Liedertafel' verdiene die vollste Anerkennung für den Gedanken, das Verweilen des Tonheroen in Steyr in diesem herrlichen Denkmale zu verewigen. Mögen · die Sänger von demselben die Mahnung und edle Begeisterung gewinnen, das deutsche Lied und die alles veredelnde Musik in alle Gaue zu tragen, zum Trost im Leide und zur Erhöhung der Freude. Im Namen des ,Wiener Männergesang - Vereines', dessen Abgott Franz Schubert sei, weiha er der Erinnerung an den Liederfürsten den Lorbeerkranz, den er hiernit zu den Stufen des Denkmales niederlege. Mit weithin vernehmbarer Stirn me und vom Herzen quellenden Worten hatte der Redner ge sproche11 und wohl kein Auge blieb trocken, als er unter lebhaftem Beifalle geendet. Die gesammte Sängerschar sang hierauf unt,er der Leitung des Chormeisters Herrn Josef Tobisch den Chor: ,,Die Nacht" von Schubert, der mit Wärme und edler Begeisterung vorge– tragen wurde und infolge dessen eine tiefgehende Wirkung erzielte. Nach diesem Chor rangierten sich die Sänger wieder zum Festzuge und zogen vor die Festtribüne, wo die holden, in jugendlichem Liebreiz blühenden Ehrenjungfrauen, die Fräulein : Marie Berger, Dora Bichler (Pointner), Johanna Eochtmann, Johanna Jonasch und Hedwig Werndl die Fahnen mit prächtig·en, schwarz - roth - goldenen und goldgestickten Fahnen– bändern zierten. Eine sehr hübsche Episode spielte ' sich ab, als die Damen in Verlegenheit darüber geriethen, dass weniger Fahnenbänder als Vereine vorhanden waren, weil im letzten Augenblicke mehr Vereine erschienen, als angemeldet waren.

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