Festschrift zur Kirchweihe Steyr-Tabor 1975
die Konstellationen von Abstoßung und Anziehung, halb- herzigem Bündnis und Kampf der vier politischen Grup- pen Steyrs vor 1914 sehr rasch . Einmal zog es die Sozia- l isten zu den Libera len, die Konservativen zu den Deutsch- völk ischen , dann tauschte man wieder „ Partner" . Einmal umarmten " sich Deutschfortschrittlich und Deutschfreiheit- iich, dann stützten die Konservativen wieder den deutsch- fortschritt lichen Dr. Angermann gegen Prof. Erb. Um 1911 näherten sich die Sozial isten den Christlichsozialen . Ein verworrenes Spiel in unsicherer, dem Krieg zutreibender Zeit. 1919 übernahm die sozialdemokratische Partei die Führung der Gemeindegeschäfte. Das auf Besitz gegrün- dete Wahlrecht hat bis 1919 auch die katholische Parte i zur vollständ igen Bedeutungslosigkeit im Gemeinderat verurteil t. Zu den peinl ichsten Kapiteln neuerer Stadtgeschichte ge- hört unzweifelhaft die Pressefehde, in welche d ie Lokal- zeitungen jahrzehntelang verwickelt waren . Hinter dem (heute teilweise erheiternden) Gepolter steckten aber Ex- trempositionen weltanschaulicher Art, wie sie uns in dieser Zuspitzung, wo praktischer Materialismus und Wohlstand alles einschläfern, nicht mehr geläufig sind . Besonders der AI p e n - Bote machte den Kathol iken Steyrs das Leben sauer. Unter dem Drucker Michael Haas begann er vor- erst ganz harmlos 1855, um etwa 1863 eindeutig liberal und antiklerikal zu werden . Besonders unter Emil Haas (t 1903) war der Alpen-Bote ein in den Augen der katho- l ischen Presse berüchtigtes Hetzblatt. Schon 1870 sandten ,, vie le Bürger " Steyrs einen Brief an das Linzer Volksblatt, in welchem sie die Kirchenfeindlichkeit des Alpen-Boten beklagten. 1900 wurde das Blatt nach der Übernahme durch Arthur Fleischanderl (t 1902) Organ der Deutschen Volkspartei. Die geschichtlich bedeutendste je in Steyr erschienene Zeitung ist die „Steyr er Zeitung ", 1876, wie der liberale Chronist Willner schreibt, ,, von den Häuptern der klerikalen Partei " gegründet. Das Blatt erregte bald nach seinem ersten Erscheinen Unwi llen durch die Angriffe des Redakteurs Auer gegen Josef Werndl, der damals eine rnkrosankte Institution in Steyr war. Auer mußte die Stadt bald verlassen. Unter den ersten Mitarbeitern der Zeitung scheinen manche bekannte Namen auf : Franz Maria Dop- pelbauer (1845-1908) , 1869-76 Seelsorger in Steyr, war Mitbegründer, Förderer und eine Zeitlang auch Mitredak- teur der Zeitung . 1889 bis 1908 war er Bischof der Diö- zese Linz. Dr. Leopold Kern (t 1903) , seit 1897 Reichs- ratsabgeordneter, war 1885-87 Redakteur. Chefredakteur von 1897 bis 1919 war der populäre, streitlustige Theodor Großmann. So gäbe es noch manch anderen Namen sol- cher zu nennen , die durch ihre publizistische Tätigkeit die katholische u. politische Situation in Steyr mitbestimmten. Seit dem 9. April 1887 erschien die Steyrer-Zeitung in der mit Konzession vom 12. Februar 1887 bewilligten Pr P. A- ve r e i n s d r u c k e r e i, Pfarrgasse Nr. 2. Seit dem 25. Februar 1887 befand sich auch die Redaktion in der Pfarr- gasse. Am 19. März 1906 kaufte der Kat h. Preß ver ein für Steyr und Umgebung vom Kaufmann Georg Perz um 56.000 Kronen das Haus Stadtplatz Nr. 2, wo man sich auch heute noch befindet. Msgr. Dr. Johann Mayböck, Mit- begründer der Zeitung und ihr einstiger Redakteur, weihte das Haus am 11 . Dezember 1906. Einst ein konservatives bzw. christl ichsoziales politisches Blatt, ist die Zeitung se it ihrer Wiedergründung nach dem Zweiten Weltkrieg (1946) stets zurückhaltend gewesen, um als einzig überlebende der e instigen drei Zeitungen Steyrs für alle da zu sein. Bis 1906 gab es als sozialistisches Blatt in Steyr einen „ Steyrer Volksfreund ". Das 1900 als deutschfortschrittliches Blatt gegründete „ Steyrer Tagblatt " wurde sei t 1919 als sozialdemokratisches Parteiorgan herausgegeben . Seit je- nem Jahr war es marxistisch eingestellt und träumte von der Herbeiführung einer sozialistischen Gesellschaftsord- nung, seit 1919 aber auch vom „ unvermeid lichen " An- schluß an Deutschland. Seit dem 25. Juni 1926 ersch ien es in Linz. - Alle genannten Zeitungen haben auf ihre Weise dazu be igetragen , die ideologische, politische, reli - giöse Situation in der Stadt mitzuprägen. Die politische Situation hat sich 1919 rad ika l gewandelt, nachdem bald nach dem Kriegsende im November 1918 eine neue, sozialdemokratische Führung in Steyr hoch- gekommen war. Das besiege lte den politischen und macht- mäßigen Untergang der alten (groß)bürgerlichen Führung . Kirchliche Kreise haben dem sozialdemokratischen Bürger- meister Josef Wokral (t 1926) Sachlichkeit und Integrität durchaus zugesprochen. In den traurigen Jahren dert Ersten Republik bestand für die Kirche dennoch eine Kampfsituat ion , aber auch eine Situation großer innerer Geschlossenheit und der Loyalität seitens vieler engagier- ter Laien. Man organisierte noch immer gerne - wir wer- den unten die vielen Vereinigungen anführen. Natürlich verwanden es viele nicht, daß das alte Bündnis von „ Thron und Altar" 1918 dahingesunken war. Die Kampfsituation von einst besteht heute nicht mehr - möge innerer und äußerer Friede der Kirche und der Gesellschaft im Ganzen erhalten bleiben! Aber es ist immer auch schon Anfech- tung gewesen , welche die Kirche stark machte. Wie und wann in Steyr freidenkerische Strömungen Ein- zug gefunden haben , ist ungewiß und sicher nicht genau aufzuklären . Bestimmte Kreise warben 1819 für die Mög- lichkeit, Leichen· in Linz einäschern zu lassen. Damals galt das als Bekenntn is, daß es mit dem Tod eben aus se i. 1923 wurde die „ Flamme ", ,, Erster alpenländischer Feuer- bestattungsverein in Steyr " gegründet. Am 11. Juni 1926 beschloß der Gemeinderat (unter Gegenstimmen der Christ- lichsozialen) einen Grundstücksverkauf an die „ Flamme " . Eine für den 22. März 1930 geplante Ketzerfeier der Frei- denkergruppen Steyr und Kraxental wurde verboten . Man hatte an die Waldenserverfolgung im Steyr des Mittelalters erinnern und gleichzeitig auch der Kirche eins auswischen wollen . Es verärgerte die Katholiken biswei len , daß der protestantische Pastor Fleischmann eine theologisch libe- rale Linie vertrat, die Feuerbestattung durchaus befürwor- tete und dem Zeitgeist entgegenkam. Die Zahl der Kirchen - austritte nahm nach 1919 stark zu, ebenso Notziviltrauun- gen, von denen es zwischen 1915 und 1919 keine ge- geben haben soll. Manche bekundeten ihren Protest gegen die katholische Ki rche - wie schon in den Zeiten der Monarch ie - durch einen Übertritt zu den Protestanten . Schon 1919 trat das Steyrer Tagblatt für die Abtreibung und empfängnisverhütende Mittel , gegen „ Mutterschafts- zwang " ein. Interessant ist die Stärke der Vereine im katholischen Steyr von einst. 1841 wurde der 3. Orden des hl. Franz von Assisi eingeführt. 1849 der „ Katholiken-Verein für Glauben , Freiheit und Gesittung " geschaffen. Sein Zweck war die „ Förderung und Kräftigung des unverfälschten Glaubens, des Sinnes für staatsbürgerliche Freiheit, der Nächstenliebe, Sittlichkeit und Reinlichkeit der Jugend , besonders aber die Wahrung der Rechte der kathol ischen Kirche " . Der 1850 gegründete Kath . Frauenverein wurde 1854 anerkannt. 1875 entstand der Kath. Volksverein , Orts- gruppe Steyr. Am 9. Mai 1875 konstituierte sich der Kath . Arbeiterverein , dem indes die Rückholung der Arbeiter- schaft nicht gelingen sollte. Ferner gab es noch den Kath . Preßverein (1881) , der noch heute besteht, den Piusverein (1906) , die „ Styria", Kath. Jugendbund für Steyr und Um- gebung (1908) und andere. Am 27. November 1904 konsti - tuierte sich eine Pfarrgruppe St. Michael des katho l ischen Schulvereines für Österreich . Seit 1909 gab es den Christ- lich-Deutschen Turnverein, der Ende 1932 287 Mitglieder hatte. 1927 wurde der Verein Kath . Arbeiterfrauen und Arbeiterinnen für Steyr und Umgebung gegründet durch Umbildung des Vereines „ Organisation christlicher Frauen 9
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