100 Jahre Höhere Technische Bundeslehranstalt

EIN AKTUELLES PROBLEM IM PHYSIKUNTERRICHT: DER BAU VON KERNKRAFTWERKEN Seit dem Gründungsjahr der „Fachschule für Eisen-Industrie" in Steyr hat die Entwicklung auf dem Gebiet der Naturwissenschaften ungeahnte Fortschritte erzielt. Damals waren u. a. weder das Elektron noch die Röntgenstrahlen oder der radioaktive Zerfall bekannt. Die Kenntnisse, die heute jedem interessierten Radiobastler selbstverständlich sind, wären damals das Nonplusultra für die Wissenschaftler auf diesem Gebiet gewesen. Inzwischen brachte die Entwicklung der Naturwissenschaften eine Unzahl fundamentaler Erkenntnisse. Nur mehr Spezialistentum kann sie beherrschen. Ein winziger Bruchteil dieses Wissens wurde in den Physikunterricht aufgenommen. So werden in den Maturajahrgängen der Abteilung für Maschinenbau, wenn auch in nur geringer Stundenzahl, grundlegende Prinzipien der Atomphysik besprochen. Als aktuellstes Thema gilt wohl derzeit die Energiegewinnung durch Kernkraftwerke. In kaum 20 km Entfernung von der HTL Steyr wird bei Enns ein derartiges Kernkraftwerk geplant und gebaut werden, dessen Realisierung zur Stellungnahme herausfordert. Einerseits mobilisieren Atomkraftwerksgegner die Presse, um alle möglichen Bedenken aufzuzeigen. und bieten Vortragende auf, die eine Gefährdung der Umwelt entsprechend hervorheben. Energiewissenschaftler andererseits rechnen vor, daß nur die Einschaltung von Atomkraftwerken den zukünftigen Energiebedarf wird decken können und daß dank der verschiedensten Sicherheitsvorkehrungen keine bedrohliche Situation eintreten kann. Im Physikunterricht werden die theoretischen Grundlagen in groben Zügen besprochen. Mit Aufmerksamkeit verfolgen die Schüler die Darstellung des gesteuerten und kontrollierten Zerfalls der im Kernbrennstoff U02 enthaltenen U-235 Atome. Die Umwandlung der beim Abbremsen der Spaltprodukte im Brennstoff erzeugten Wärmeenergie, die durch Kühlflüssigkeit abgeführt und über Dampfturbinen in elektrische Energie umgeformt wird, ist aus dem Unterrichtsgegenstand „Dampferzeuger, Kolbendampfmaschinen und Dampfturbinen" bekannt. Die Jugendlichen stehen allgemein Neuerungen sehr aufgeschlossen gegenüber. Sie sind risikofreudig. jedoch nicht sorglos. In eifriger Debatte werden teils aus Sorge um die Heimat und teils aus Neugier Pro- und Kontrameinungen zum Kernkraftwerk ausgetauscht. Die Stellungnahme des Lehrers, auf den Erkenntnissen von Wissenschaft und Technik basierend, wird in diesem Fall wohl als Grundlage, jedoch nicht als Dogma anerkannt. Die Schüler kennen die Greuel der Atombomben nur aus ihrer historischen Sicht des zweiten Weltkrieges, sie wissen aber, daß ihre Eltern sich mit Schrecken an die Sprengbomben und furchtbaren Folgen der Atombomben erinnern. So glaubt der eine oder andere - von den Ansichten besorgter Erwachsener beeinflußt - mit einem Kernkraftwerk wäre die Gefahr einer Explosion, ähnlich der einer Atombombenexplosion. jederzeit existent. Daß Kraftwerksanlagen mit einer Leistung von 700,000.000 W, gleichgültig, welche Art der Erzeugung sie darstellen. Risken mit sich bringen, steht außer Zweifel. Die Frage ist nur, wie groß diese Risikofaktoren sind. Gibt es bei anderen Neueinführungen oder Entwicklungen keine Gefahrenmomente? Wollte man in jedem Fall absolute Sicherheit verlangen. dürfte dann ein Flugzeug, ein Schiff, die Bahn oder ein Auto noch jemals bestiegen werden? Kann ein Flußlaufkraftwerk durch nicht voraussehbare Naturereignisse keine Katastrophe herbeiführen? Eine eindeutige Antwort kann niemand geben. Wir wissen jedoch, daß sicherlich alles erdenklich Mögliche berücksichtigt und einkalkuliert wird, um bisher bekanntgewordene Schadensquellen auszuschließen. Zu einer Reihe von Fragen erwarten die Schüler eine Antwort: Wie groß ist die Sicherheit bei einem Kernkraftwerk? Welche vorbeugende Maßnahmen werden gesetzt? Wer verlangt sie und kontrolliert ihre Einhaltung? Was passiert bei einer gewaltsamen Einwirkung, sei es durch Sabotage, Flugzeugaufprall, Raketenbeschuß oder Ausfall des Kühlwassers und des Steuersystems, sowie beim Ausströmen radioaktiver Substanzen bei Leitungsbrüchen? Welche Gefährdung bringt der normale, ordnungsgemäß ablaufende Betrieb mit sich? Dazu kann gesagt werden: Weit über hundert Kernkraftwerke sind mehrere Jahre in Betrieb. Die Zahl der Betriebsjahre aller Kernkraftwerke beträgt bisher über tausend. In dieser Zeit ist, so wird glaubhaft versichert, keine Person außerhalb von Kernkraftwerksanlagen durch Strahlung zu Schaden gekommen. Dieser Erfolg und das Versprechen, daß auch in Zukunft keine Gefährdung eintreten wird, begründen sich in den mannigfaltigen Sicherheitsvorkehrun77

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