100 Jahre Evangelische Kirche Steyr Stadt 1898-1998

INTERMEZZO Paradoxerweise ist das Wiedererstarken der ört– lichen Pfarrgemeinde stark mit der Rüstungsindu– strie verknüpft. Eine unselige Verquickung? Ohne der Zuwanderung von Fachkräften für die Armaturenfabrik des Josef Werndl aus dem prote– stantischen Ausland, wäre es nie zur Gründung ei– nes Kirchbauvereins und damit zur tatsächlichen Er– richtung von Kirche und Pfarrhaus gekommen. In– teressant scheint mir auch , daß von zahlreichen Seiten Spenden und Zuwendungen an diesen Kirchbauverein ergingen: von hochherzigen, edel– denkenden Katholiken genauso, wie von mildtäti– gen Israeliten. Der politische Katholizismus der Zwischenkriegs– zeit war durch Übertritte aus der katholischen in die evangelische Kirche wieder ein wesentlicher Wachstumsschub für die örtliche Pfarrgemeinde. Diese Zeit ist, zumindest in dieser Hinsicht, hinrei– chend dokumentiert und analysiert. Die Bedeutung dieses plötzlichen Wachstums für die gesamte Ent– wicklung der Evangelischen Kirche, bedarf genau– so wie die folgende nationalsozialistische Zeit noch einer eingehenden Analyse. Die Rolle der Evangelischen Kirche in dieser Zeit wurde in dieser Festschrift noch nicht erwähnt. Zwar lesen wir, daß Pfarrer Fleischmann sich redlich be– mühte, den Neueingetretenen den evangelischen Glauben nahezubringen, wir lesen auch über sein großes soziales Engagement, aber für mich besteht eine Diskrepanz zwischen diesen Tatsachen und der folgenden dunklen Zeit. Wer spricht schon gern über eine Zeit, für die er sich schämt oder schämen müßte? Auch wenn Scham ein schwaches Zeichen angesichts des weit– gehenden Schweigens der Evangelischen Kirche zum Nationalsozialismus ist. 52 Andererseits, wenn charismatische Persönlich– keiten nicht gegen Strömungen Stellung beziehen , wenn also die Lehrer und andere Autoritäten, an denen man sich als moralische Instanz ausrichtet, versagen, braucht es wohl lange, bis man aufwacht. Auch damals wäre es, wenn schon nicht christliche Pflicht, zumindest in der Lutherischen Tradition ge– wesen, unabhängig von der geistlichen Obrigkeit, als mündiger Christ, Stellung zu nehmen. In Steyr führten die Entwicklungen zur totalen Ausrottung auch der mildtätigen Israeliten, die, eine Generation früher, für den Kirchbau gespendet hat– ten. Die Evangelische Kirche, die sonst sehr gern über die Verfolgung spricht, die ihr widerfuhr, trat zumindest nicht gegen die Verfolgung anderer auf und wurde so selbst zum Verfolger. Mir fällt es 60 Jahre später schwer, das alles zu verstehen. Immerhin kommt manches aus der Nach– kriegszeit an den Tag, von dem man glaubt, daß man es unter den Teppich hätte kehren können . Es beweist den schlampigen Umgang der Österreicher aber auch der Evangelischen Kirche mit der Ge– schichte. Mir wäre wohler, wüßte ich von einer klei– nen Schar in einer österreichischen Kirche des Wi– derstandes, wie sie durch Dietrich Bonhoeffer in Deutschland personifiziert wurde. Mir wäre wohler müßte ich nicht versuchen, die Entschuldigung der Scham über das Geschehene als Erklärung für das Schweigen zu den Vorgängen hinzunehmen. Es wird auch für die Evangelische Kirche in Steyr eine Aufgabe sein, die vergangenen 60 Jahre sehr genau aufzuarbeiten. Eine Herausforderung, nicht um zu verurteilen, sondern um zu verstehen was doch unverständlich ist, damit derlei nie wieder möglich wird!

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