100 Jahre Evangelische Kirche Steyr Stadt 1898-1998
INTERMEZZO VON CHRISTIAN lANDERL Die Waldenser und später Martin Luther hatten einige Ansprüche, die sie zu ihrem Handeln trieben. Ein wesentlicher war ein direkte Zugang zu Gott. Das heißt, kein Umweg über einen vermittelnden Geistlichen, keine spezielle Sprache, die nur Einge– weihte kannten , sondern der unmittelbar Kontakt von Mensch zu Gott, von Gott zu Mensch. Der Großteil der Bevölkerung hatte damals wenig Rechte, dafür viele Pflichten. Scheinbar ließ sich die breite Masse der Beherrschten das auch widerstands– los gefallen und ein Aufbegehren dagegen war sinn– los. Es gehörte sich nicht und das gemeine Volk war dazu auch nicht fähig. Es hatte keine Bildung und nur wenige waren des Lesens kundig . Vielleicht war das Los der vorreformatorischen Bewegungen das übliche Schicksal der zu früh ge– kommenen: die Zeit war noch nicht reif. Aber schon zu Luthers Zeit muß es ein gewachse– nes Bewußtsein gegeben haben: die Möglichkeit, über sich und seine Stellung in der Welt nachzuden– ken. Da paßt es dann auch, daß man plötzlich keinen Vermittler mehr benötigt, um mit Gott zu reden. Der Buchdruck mit beweglichen Lettern , der zu dieser Zeit entstand, war auch ein wesentlicher An– trieb aller folgenden Umwälzungen. Vorher gab es nur aufwendige Druckverfahren, die eine Massen– produktion nicht zuließen, oder gar nur die Möglich– keit der handschriftlichen Kopie. Wer besaß die Bü– cher, damit das Wissen der Zeit und nützte sie zur Festigung seiner Stellung? Die Klöster mit ihren gro– ßen Bibliotheken und die Minderheit der Herrschen- INTERMEZZO den , die damit oft gar nichts anfangen konnte. Durch den Buchdruck wurde es möglich, die Ideen dieser Zeit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Betrachtet man die Geschichte der Evangelischen in Steyr, kann es durchaus als Wunder bezeichnet werden, daß es sie noch gibt. Die starke Verwurze– lung der Waldenser in der Gegend um Steyr läßt zwar auf eine gewisse Empfänglichkeit für neue Gedan– ken und Stimmungen schließen, aber bedenken wir: die Waldenser wurden ausgerottet. Der Nährboden mag geblieben sein, so ist auch die große Resonanz auf die Gedanken eines Martin Luther verständlich, die später Steyr zu einer überwiegend protestanti– schen Stadt machen sollte. Religiöse und gesellschaftspolitische Faktoren des gewachsenen Bewußtseins breiter Bevölkerungs– schichten haben sich verknüpft und einander ergänzt. Ein politischer Ausdruck war der Bauernkrieg, ein re– ligiöser die Evangelische Kirche. Daß sowohl die da– mals Herrschenden als auch der Klerus damit nicht einverstanden waren, erscheint verständlich. Die Bau– ern wurden besiegt und mit ihnen wurde genauso gnadenlos abgerechent, wie es auch die Gegenre– formation schaffte, das Land ob der Enns wieder zu rekatholisieren. Abwanderung und wirtschaftlicher Niedergang wurden dabei in Kauf genommen. Es ist legitim zu sagen, daß reformatorische Bestrebungen, auch wenn sie dem Wohlstand der Stadt und des Landes gedient haben, grundlegend beseitigt wur– den. Die wenigen Geheimprotestanten, die Genera– tionen später die Gründer der heutigen evangelischen Pfarrgemeinden Oberösterreichs werden sollten, fal– len da nicht mehr ins Gewicht. Sie wären wohl auch in Steyr zu wenige gewesen, um eine neu Blüte die– ser Kirche hervorzubringen. 51
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