Zum 100. Geburtstag von Enrica Handel-Mazzetti

Wendung: ,,Armer Bub, das ist noch das Ärgste nicht, das ist nicht Crucifige!" Unter dem Aufruf der Kommission an alle Pechlamer Bürger .schreibt jemand die handschriftliche Bemerkung hinzu: ,,Matthäus ist der Hannas, Geörg ist der Caiphas, Jochen ist der Herodes, Jesse ist der verlassene Jesus 151 und der Lehrer Landes- perger nennt Jesse den „verfolgten Jesus 152 ." Maria ist „auf dem Ölberg der Todesangst 153 . Und von Jesses Todesgang heißt es: ,,Und sie führten ihn weiter zu seinem Kalvaria 154 ." Stephana erinnert sich, als -sie am Pranger 'Steht, der Leiden Christi 155 , ihre Mutter kommt zu ihr wie Maria zu Jesus. Heinrich Händel glaubt Blut an ihren Händen und Dornen in ihrem Haar zu sehen 156 . Tessenburgs Todes- gang157 wird mit -dem Kreuzweg Christi verglichen, auch die Hinrichtung zeigt ver- wandte Züge. Günther 158 fordert die Burschen, die ihn befreien wollen, auf: ,,Steckt eure Schwerter ein!" und es heißt weiter: ,,Judas verriet Chriistus und Slevogt verriet Günther." ,,Ritas Briefe" berichten vom Kreuzweg der kleinen Blutzeugin (S. 213). Frau Ma11ia leidet nach Jesu Vorbild 159 : ,,Gestern war sie noch ein bana,les Mädel wie hundert andere. Heute ist sie eine Heilige, eine Nachfolgerin Christi auf dem Kreuz- wege." Später ertönt ein Hahnenschrei. ,,Sonst ist man ihn auf jedem Wirbschaftshof gewöhnt, hier aber in der Vorkammer des Todes klingt er grausenvoll. Der blinde Hahn kräht: cras, cras ! Jetzt noch ist Zeit, die letzte. - Morgen ist alle Zeit fürbei, es kommt die Ewigkeit 166 ." Immer wieder finden sich Parallelen zur Passions- geschichte161; von Ort zu Ort getrieben, nirgends aufgenommen, findet Mariechen erst beim alten Franzmeier ein Plätzchen zum Ste:riben. In der „Waxenbergerin" wird eine Stigmafüierte mit den Wunden der Dornenkrönung und den Nägelzeichen an den Händen, die in Wien in den Tuchlauben lebt, besucht und befragt, Chr,istine Rigle- rin162. Eine Anmerkung in „Frau Maria" (I, 313) weist aber geradezu auf Themse Neumann von Konnersreuth hin, mit der die Dichterin in Verbindung stand. Wenn die „Arme Margaret" den •ste11benden Herliberg in ihren Armen birgt 163 oder wenn Frau Schwertner 164 ihr totes Kind in ihren Armen hält, so dient .das Urmotiv der Pieta zum Vorbild. In der „Armen Ma11garet" (S. 332) taumeln die Dragoner zu Boden wie Chl'isti Grabeswächter. Und wenn Maria Schinnagel, selbst eine •schmerz- haft Verwundete, vor dem Bild der •schmerzhaften Muttergottes zusammenbricht - ,,Die Königin der Martyrer (blickt) auf die arme Martyrin für ihres Volkes Heiltum" - so sind ähnliche Zusammenhänge zu spüren 165 . Es ließen sich noch manche derartige Beziehungen aufdecken. Handel-Mazzetti gesteht zu solchen Szenen 166 : ,,Die Szenen . .. sind gar keine Berechnung, ich muß sie schreiben, sie bedeuten für mich die Höchst- spannung aller künstlerischen Kraft. Es sind die Repristinationen des größten und mich am tiefsten berührenden Glaubensgeheimnisses, des Kreuzestodes Chri'sti." Immer handelt -es ,sich bei Handel-Mazzetti um Schuld, Verurteilung, Bekehrung, Buße, Opfertod im Sinne christlichen Glaubens und um den -schließlichen Sieg der Liebe in Form der christlichen caritas. Diese Grundthemen werden in verschiedenen historischen Umgebungen immer wieder von neuem gestaltet, wobei der historische Anstoß oft nur gering ist, während die eigentliche Problematik im Innern der Dichterin beschlossen liegt und im geschichtlichen Bereich nur nach einer Möglichkeit sucht, Gestalt zu weroen. Darum ist in fast jedem ihrer Romane eine Art Legende ver- steckt167. Handel-Mazz-ettis Romane, be.sonder,s die ersten aus ,der Zeit ,der österreichiischen Gegenrefo11IDation, erregten großes Auf.sehen, ja Begeisterung und lebhafte Zu- stimmung, aber auch manchen Widerspruch und riefen vielfach Polemik hervor, die sich aber nur selten auf künstlerische Fragen, ,sondern auf konfessionelle Interessen, F:riagen -der Tendenz und dergleichen erstreckten. Immerhin wurden -si:e aber viel ge- lesen, viel besprochen und wohl auch gekauft. Denn stets wurden, oft in :riascher Folge, Neuauflagen nötig. Wenn man nun auch über die Wirkung und Verbreitung li terarischer Werke schwer eine statistiische Genauigkeit erzielen kann, so geben ,doch die Auflagen- ziffern wenigstens einen Fingerzeig. Ohne eingehende Untersuchung läßt sich sagen, daß ihre Beliebtheit in den zwanziger Jahren zurückging und in den dreißiger Jahren rasch abnahm, was mit den allgemeinen Zeitverhältnissen erklärbar i,st. Während der ,,Meinrad" 1938 noch das 120.-122. Tausend erlebte, ,,Jesse" 1936 es· auf das 147. Tau- send brachte, blieb die „Arme Margaret" 1930 beim 117. Tausend, der „Deutsche Held" 1936 beim 83. Tausend, ,,Stephana Schwertner" 1927 (I: 58., II: 54., III: 63. Tausend) stehen. Vom Sand-Roman erfuhr der I. Band, ,,Das Rosenwunder", 1934 das 36. Tau- 46

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