Zum 100. Geburtstag von Enrica Handel-Mazzetti

dem oft der Gelehrte den Dichter er,schlug und man die Erzählform manchma,l nur benutzte, um seine Kenntnis-se an den Mann zu bringen. Ein nationaler Ton wurde beliebt, als Gustav Freytag in seinem Romanzyklus „Die Ahnen" ein Bild deutscher Geschichte in Romanform gab, während er sein Wis,sen in -den „Bildern aus der deutschen Vergangenheit" niederlegte. Aber noch immer wagte man nur selten, be- deutende Er-scheinungen der Geschichte direkt darzustellen, wie etwa Eckstein in seinem ,,Nero" bis auf C. F. Meyer, den die seelische Enträtselung auch bedeutenderer ge- schichtlicher Erscheinungen reizte (Der Heilige, Pescara, Angela Borgia usw.). Doch die Art Walter Scotts blieb weiterhin herrschend, und erst eine gewandelte Welt wagte es im Zusammenhang mit politischen Strömungen, große Geschichtsträger her- auszuheben und fast monographisch darzustellen. Handel-Mazzetti hielt sich an Walter Scott und seine Nachfolger 110 • Hiistorische Tatsachen leuchten nur manchmal kurz auf, um Kolorit und Aura zu geben. Ungewöhnlich stark ist ja das Vermögen der Dichterin, sich in vergangene Zeiten einzufühlen, sie oft bis ins Kleinste lebendig zu machen und diese Farbtupfen an geeigneter Stelle anzubringen. Doch bleibt für sie die Geschichte immer nur Mittel zum Zweck, sie braucht Geschichte, um Wahrheit des Geschehens vorzuspiegeln, um den Wahrheitsgrad ihrer Erzählung zu heben 120 • Die Illusion der Echtheit wird durch den archaisierenden Sprachstil gestützt und auch noch durch andere Mittel erhöht, besonders durch -sonst entbehrliche kleine Episoden, Hinweise auf Jahresziahlen, Daten, Kirchenjahr- und Heiligenfeste. Oft verliebt sie sich so in das Milieu, besonders in späteren Jahren, daß sie sich von der Detailmalerei nicht losmachen kann und dann zuweilen erbarmung,slos streichen muß. Bis in Kleinigkeiten hinein studiert sie ihre Quellen wie eine Historikerin, um geschichtliche Treue zu erzielen. Doch zeichnet sie gelegentlich auch geschichtiliche Personen ,so, daß sie in ,ihr Konzept passen, wie ,den Kaiser Matthias in der „Ste- phana", Erzherzog Karl im „Deutschen Helden", August den Starken und die Gräfin Königsmarck in „Frau Maria", Kaiser Leopold I. und Graf Starhemberg in der „Waxenbergerin" und in „Graf Reichard". Auch bei Sand und Günther ist das deutlich zu sehen, so daß man sagen muß, es geht ihr eigentlich doch nicht letzthin um das Hrstorische, ja es sind ihre Romane letzten Endes keine historischen Romane, weil sie die Geschichte nur als Hilfsmittel für die Gestaltung ihrer eigentlichen Problematik benützt, wie das ja meist im sog. historischen Romane geschieht 21 • Darum fehlen bei ihr auch Staatshandlungen im engeren Sinn. Wie immer es •sei, auch für Handel-Mazzetti wird die Geschichte, ohne das direkt zu betonen, irgendwie zum Spiegel ihrer Gegenwart. Bei solchen Umständen gibt es für sie Quellen im eigentlichen Sinn nicht, ,son- dern nur Anr.egungen aus der Geschichte. So umfassend und eingehend oft ihre Studien sind, sie entnimmt ,daraus nur das Zeitkolorit, manchmal einzelne Figuren, aber selbst beim „Sand-Roman" muß das .geschichtliche Faktum ihren Absichten dienen. Sie benützt eine Fülle von Dokumenten, man kann ganze Register zusammenstellen, wissenschaftliche Darstellungen, aber auch Urkunden, Stiche und Abbildungen, wobei sie immer trachtet, möglichst auf Originaldokumente zurückzugreifen 1 22 • Daß sie vom Glaubenszwiespalt in ihrer Familie auf die Barockzeit, die damals gerade auch kunstgeschichtlich und literaturgeschichtlich einer Neubewertung entgegenging, auf die Zeit der österreichischen Gegenreformation stieß, war eigentlich naheliegend, zumal ihr gerade dieses Zeitalter mit seinen Aiusdrucksformen, mit seiner Neigung zu Antithesen, zu Wucht und Gewalt, zu Aufgipfelung und Bewegtheit, zu rauschhaftem Prunk und wieder schlichter Einfalt besonders entgegenkam. Denn amh sie liebt die große Gebärde, das Wuchtige, Krasse, die Marter- und Greuelszenen barocker Mar- tyrergemälde und triumphale Sregespracht, wie barocke Kunst den Blick in den Himmel öffnet. So ist es auch kein Zufall, -daß Handel-Mazzetti nach Schiller griff, dessen Verbunden- heit mit dem Barock ,sie wohl instinktiv fühlte und dessen Pathos der gespannten Haltung ihrer Seek entgegenkam. Darum war ihr auch die Tendenz zur übersteigerung im Expressionis,mus nicht fremd. Schillers „Maria Stuart" und „Die Jungfrau von Orleans" waren ja in ihrem Sinne Märtyrertragödien. Sie stellt selbst fest, daß der Urtypus ihrer Frauengestalten •solchen Schillers nahestehe, und ve11sucht eine ent- sprechende Gegenüberstellung zu geben 123 • Ihre Frauenfiguren sind ja Ideenträgerin- nen, die ihr Glaubensideal festhalten und dafür den Tod erleiden. Und wenn für den „Deutschen Helden" a1s Parallele auf Kleists „Prinz v. Homburg" verwiesen werden 42

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