Zum 100. Geburtstag von Enrica Handel-Mazzetti

Kunst nie bedauert 107 . " Dieser frühen Äußerung entsprJcht eine ,spätere, ,die beweist, daß ihre Schaffensart im wesentlichen gleich geblieben iist. ,,Zue11st erscheint mir die Gestalt, die Szene, bildhaft-körperlich, ich sehe alles mit einer Art der Vergangenheit zugewendeten Divination. Ich arbeite dann die Szene, die mir in dieser Art durch In- spiration gleichsam von Gott geschenkt wird, aus, und ,dann beginne ich - empiriisch und synthetisch - an Hand ,der zeitgenös.si !schen Quellen die Wah11heit oder Wahr- scheinuichkeit zu prüfen 108 ." Geschaute Szenen bestätigen ,sich -dann oft historisch 109 • Aus diesen Umständen heraus ist ·sie eine langsame Arbeiterin, kiann ein Werk nicht forcieren 110 und vor allem sich keinen Stoff aufdrängen lassen 111 • Handel-Mazzetti bettete ihre Erzählungen fast immer in histori,sche Zeiten ein. Je näher sie der Gegenwart kam, umso mehr verblaßte ihre Wirkung, was sie selbst spürte. ,,Die moderne Sprache beengt mich", gestand sie, in der Gestaltung der Gegen- wart verHeren ihre Motive an Wahrscheinlichkeit und Glaubwfüdigkeit, werden über- kräfHg und bedenklich 112 • Das hängt natürlich mit ihrer Thematik und ,dem Umstand zusammen, daß ihre Hauptmotive ,dem christlichen Bereich entstammen und in früherer Zeit besser glaubhaft gemacht werden können. Und da haben Erz.iehung und Kloster- jahr ihre Wirkung getan. Der Zauber klösterlichen Lebens, abgeschirmt gegen die Welt, hat sie in der Jugend, gerade in der empfänglichsten Zeit, umfan&en und eigent- lich festgehalten . Das St. Pöltener Kloster findet in mehreren Dichtungen seinen Platz, j-a ihre Romane weisen immer wieder irgendwie in Klöster. Der „Meinrad" führt nach Kremsmünster, ,,Jes-se" zu den Jesuiten in Krems, ,die „Arme Margaret" nach Garsten bei Steyr, ebenso die „St-ephana Schwertner", Sophie Tes·senburg stirbt bei den Elisabethinen in Wien (,,Deutsche Held"), di-e Rita-Bücher deuten nach St. Pölten, Else Walch weilt in St. Pölten bei den Englilschen Fräulein (Sand-Roman), ,,Frau Maria" spielt im evangelischen Sbift zu Quedlinburg, Schubarths Knabe kommt zeitweise nach Schweidnit zu den Jesuiten und die „Waxenbergerin" sowie „Graf Reichard" Ieiten zu den Wiener und Linzer Ursulinen. Handel-Mazzetti hat selibst das St. Pöltner Kfoster als Wiege ihrer Barockkunst bezeichnet 113 und nicht nur im „Jesse" (II, 328), sondern auch in „Ritas Vermächtnis" Erinnerungen .an St. Pölten angebracht 114 • Bei näherer Betrachtung läßt sich nun der Urgrund ihrer geschichtlichen Romane auf die Legende zurückführen, und zwar auf die Märtyrerlegende 115 , wie sie ihr in der Agnes-Legende entgegentrat, die ;sie in ihrem epischen Jugendve11such „Die Braut des Lammes" (1890) zu gestalten unternommen hatte. ,,Stephana Schwertner" wiederholt dann geradezu die Grundkonstellation ,der Agnes-Legende und ,die hl. Agnes wird auch in anderen Werken ~mmer wieder erwähnt 116 • Aber überhaupt we11den die Heldinnen zu Märtyrerinnen: neben Stephana EJ.se W,alch (Sand), Günther, Friau Maria und auch Cornelia de Vry (Graf Reichard), sie sterben einen Opfertod für andere. Ebenso begegnet wiederholt das Bekehrungsmotiv aus der „Braut des Lammes", das schon in „Je&se" anklingt, ais innerliche Umkehr auch bei Herliberg (,,Arme Margaret"), bei Heinrich Händel (,,Stephana"), b~ Sand im „BJutzeugnis", bei Maria v. Bronnen (,,Frau Maria") und •schließlich wieder bei Cornelia (,,Graf Reichard"). Es sind eigentlich Themen und Motive des frühchristlichen Romans, wie sie bei den Oxfordern und ihren Nachfolgern immer wieder auftauchen 117 , bis auf Wallaces „Ben Hur" und Si·enkiewicz,s „Quo vadiis?" . Nur wird der Gegensatz Heidentum - Christen- tum bei Handel-Mazzetti .i:n den von Katholik-en und Protestanten verwandelt, später in den Gegensatz Christentum - Antichristentum. Dabei bleibt die eigentliche Handlung immer Erfindung der Dichterin, und es berührt merkwürdig, wenn sie das gelegentlich ausdrücklich betont oder zuweilen in einer Anmerkung -darauf verwei,st, daß etwas geschichtliche Tatsache sei, sie also eigentlich ,den ästheHschen Raum ,des Kunstwerks verläßt und mit der Wirklichkeit vertauscht 118 • Der historische Roman war seit der Romantik, besonders in Nachahmung Walter Scotts, im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Wendung zum Historismus immer stärker gepflegt worden. Doch blieb man dem Vorbild Scotts weitgehend treu und erzählte meist eine erfundene Handlung auf historischem Hintergrund, so daß man es vermied, große Gestalten der Geschichte in die Mitte zu ,ste:!len. Man erlaubte sich höchstens, ,sie als Nebenfiguren oder im Hintergrund ,auftreten zu lais 1 sen. Historische Tatsachen, besonders kulturhistorisches Beiwerk mußte Farbe und Stim- mung schaffen und begann immer mehr zu wuchern, als gelehrte Historiker die Sache 41 in die Hand nahmen. So entstand der bald übelberüchtigte archäologische Roman, in

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