Zum 100. Geburtstag von Enrica Handel-Mazzetti

abzubringen. Sand reist nach Mannheim und tötet Kotzebue als Rächer des deutschen Volkes. Sein Versuch, sich dariauf selbst zu richten, ,scheitert wie der Heinrich Händels in der „Stephana". Schwer verletzt wird er ins Zuchthaus eingeliefert. In Jena ver- breitet sich nicht nur dil!s Gerücht von dieser Tat, sondern -auch, daß er eine Jenenser Profes,sorentochter entehrt habe. Else Walch weilt aber in St. Pölten bei den Englischen Fräulein im Kloster, wohin ihr der Vater nacheilt, um sie nach der Wahrheit zu befragen. In einem Schauspiel, in dem Else ,die hl. Cäcfüa dar.stellt, erkennt er instinktiv Elses Reinheit . Beide eilen dann nach Mannheim, um dort vor Gericht ihre Aussage zu machen. Sand hat aber selbst Else Walch al,s Urheberin dieser Verleumdung bezeich- net. Es gelingt auch seinem Freund Dr. Gheri nicht, ihn davon aibzubringen. Erst bei der Vernehmung E1ses wird Sands sittliche Reinheit offenbar, doch aus Trotz verwei- gert er die Zurücknahme des Schimpfwortes, das er gegen Else •gebraucht hat. Else besucht nun, als Student verkleidet, Sand im Gefängnis, so wie Maria den verurteilten Jesse im Kerker besuchte, und es gelingt ihr, ihn umzustimmen. Als sie nachher in einem Gasthaus für Sand Partei ergreift, wird ,sie verfolgt, auf der Straße nieder- geschossen und stirbt in einer nahen Kirche, wohin man sie gebracht hat, unter priester- lichem Beistand. Auch ihr Vater, Professor Walch, söhnt sich mit Sand noch vor dessen Hinrichtung ,aus. Neuerdings begegnen uns manche bei Handel-Mazzetti bereits bekannte Motive, vor allem wieder Mißverständnisse und Intrigen, die die Handlung vorwärts treiben müs- sen, wie bereits in der „Stephana". Manches mutet unwahrscheinlich, ja unglaublich an. Denn nicht geschichtliche Treue -steht ihr obenan, ·sondern der Kampf um Sands Seele, seine Umkehr, wobei Else sich für den Täter opfert, eine zweite Rita. Wohl gelingt der Dichterin noch manche ,spannende Szene, etw,a Walchs rasender Ritt nach St. Pölten - diese Ritte, auch jener Heinrichs von Wien nach Steyr in -der "Stephana" oder jener nach Baden im "Deutschen Helden", ,sind von Bürgers „Lenore" angeregt; aber an- deres wird oft bedenkliches Theater, so etwa die als Student verkleidete Else Walch in Sands Kerker, üble Maskarade, bei der der Zweck nicht die Mittel heilig<!:. Vieles wird übersteigerte, überhitzte Empfindlichkeit. Man vermißt die frühere Konzentration, alles wird breit und ausführlich, wobei geschichtliche Details zuweilen in verschwenderischer Fülle angebracht werden. Im Mittelpunkt aber steht eigentlich die religiiöse Auseinandersetzung zwischen Else und Sand, die durch nebensächliche Umstände immer mehr ins Gerede der Leute kommen. So gemahnt auch hier wieder vieles an Kolportage, ,an klappernde Mechanik, die die Handlung weiter treiben muß, wenn sie ins Stocken gerät. Anonyme Anzeige, Gegen- stände, deren Besitz verdächtig erscheint, Sand wird verleumdet, um ihm seine Anhän- ger abspenstig zu machen, direkte Intrige wie die Fälschung eines Protokolls, kurzum eine Fülle von Punkten fragwürdigster Art. Daher erwächst vieles nicht aus den Charakteren, sondern aus äußeren Umständen, was im Barockroman noch nicht 'Störte, aber seit dem 18. Jahrhundert peinlich geworden ist. Dennoch ist der kulturgeschichtliche Hintergrund wieder mit Souveränität gezeichnet, die Dichterin hat ,sich in gewohnter Weise um Unterlagen bemüht und trat sogar mit Angehörigen der Familie Sand in Beziehung. Es war aber ihr erister Roman, dessen Örtlichkeiten, ,dessen "Milieu" sie nicht il!US eigener Anschauung kannte. Man hat dar- auf verwiesen, wie sich ihre Daristellung immer mehr verbreitert. Die drei Expositions- kapitel des "Jesse" umfassen zus,ammen 58 Seiten, das Kaiserkapitel der „Stephana" braucht 41 Seiten, die Schi1derung des Geburtsfestes im „Rosenwunder" (Sand I.) dehnt sich auf 115 Seiten aus. Der 3. Band, ,,Das Blutzeugnis", einen Zeitraum von knapp 24 Stunden umspannend, hat einen Umfang von 617 Seiten. Das Alter bringt eine Verbreiterung der Daristellung mit sich. Darum ist auch der ganze Roman nicht so straff gebaut wie etwa "Die arme Margaret" oder "Der Deutsche Held". Alles er- scheint ruhiger, der dramatische Stil weicht mehr dem epischen Fluß, obwohl noch immer szenische Darstellung gesucht wird. Wie die Novelle "Der Verräter" aus dem "Meinrad" Material ausgeschieden wurde, so auch die Erzählung „Christiana Kotzebue". Dieses ursprünglich als Schluß der Sand- Trilogie entworfene Stück 84 gibt die Totenklage der Mutter Kotzebues, ,der Mutter des Ermordeten vor der Leiche seines Mörders . Sie sucht den schönen Leichnam des jungen Sand vor dem Seziermesser der Ärzte zu retten und ihm ein christliches Begräbnis zu bereiten. Die Umgebung, die unheimliche Situation, die heroische Haltung der alten 34

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