Zum 100. Geburtstag von Enrica Handel-Mazzetti

gehalten. ,,Hie genua flexit, ovicula benedixit." Wir Kinder standen auf dem antiken Chörchen und sangen aus vergilbten Notenheften frohbewegte Litaneien, melodiöse Messen ... Wir trugen weißblaue Prinzeßkleider und dreieckige, mausgraue Umschlag- tücher, fast wie die Demoiselles von St. Cyr, und die Klosterfrauen malerisch das Kostüm der englischen Witwen aus Mary Wards Zeit, der wallende, schwarze Habit, der blendend weiße Kragen mit kleiner Falbel, der .schwarzs.eidene Faltenschleier. Wir saßen im hochgewölbten Refektorium auf Bänken ohne Lehne. Wir beteten ein französisches Tischgebet: ,,0 Dieu, qui nous presentez les biens necessaires a la nourriture de notre corps .. . Wir aßen von Blechtellern, ein gruseliges altes Gemälde hing an der Wand; der Kopf des hl. Johannes des Täufers auf ähnlichem Blechteller, wie wir sie zum Essen hatten. Herodias hielt den Teller und lächelte wie eine bös- artige Rokokofürstin ... 12 " Alles weckt schöne Jugenderinnerungen, das Klavier- zimmer, die riesige Gartenlinde, der Institutsgarten, sogar das Krankenzimmer, „auch wieder von einem reizenden lächelnden Rokokoschutzengel in römischen Stiefeln bewacht". Eine Schwester erzählte den Kranken Geschichten, 11 und die Klosterseniorin, Fräulein Kofler, die manchmal am Arm der Krankenpräfektin hereingehumpelt kam, die wußte noch schönere Geschichten : vom Jahr Neun, wo die große Teuerung in Tirol war - ein Apfel acht Kreuzer; - vom Helden Hofer und vom Vizekönig Eugen in der goldenen Uniform - Schöne alte gemütliche Zeit! - Das war 1886. Schon zwei Jahre später kommt der Umschwung. Die Neuzeit zieht ein in das traute altfränkische Nest 13 ." In St. Pölten begann Enrica sich literarisch zu bilden und schriftstellerisch zu versuchen; in St. Pölten war eben durch das Klostertheater ihr schriftstellerischer Sinn geweckt worden, und wenn er dort auch nicht zur Reife kommen konnte - dazu war es noch zu früh -, so sind doch in den damals entstandenen jugendlichen Arbeiten vielfach Ansätze für Späteres zu erkennen. Obwohl die Mutter trotz ihrer eigenen liberalen Ansichten ,die religiöse Erziehung ihrer Töchter nicht vernachlässigte, so war doch das klösterliche Jahr für die Ausbildung des religiösen Innenlebens entscheidend. Elvira trat später in Sacre Creur in Preßbaum ein, und Enricas Glaubensleben hatte sich vertieft und verwesentlicht, sie bereitete sich auf ein weltliches Klosterleben vor. Nach der Heimkehr wurde die Ausbildung beider Mädchen fortgesetZ'l: 14 , in Literatur durch Professor E. Wiedenhofer, im Zeichnen durch den Maler Reinhold, ferner durch den Ästhetik-Professor der Wiener Universität Dr. Robert Zimmermann, dessen Schwester Mater Franziska in St. Pölten Enricas Englischlehrerin war. Auch wurde das Kunstverständnis durch wiederholte Besuche der kaiserlichen Gemäldesammlung, die damals noch im Belvedere uilltergebracht war, gebildet und vertieft. Enrica legte dann auch eine Diplomprüfung über französische und ,deutsche Sprache mit glänzendem Er- folg ab. Damals muß sie auch Latein gelernt haben; die modernen Kultursprachen waren ihr ja geläufig. Ihre ersten schriftstellerischen Versuche fanden in Vereinsblättern und religiösen Zeitschriften Unterkunft, bald aber lieferte sie auch Feuilletons für die amtliche „Wiener Zeitung", unter anderem einen Aufsatz über den Kremsmünsterer neulateinischen Dichter P. Simon Rettenpacher, .dessen sie dann in ihrem ersten Roman 11 Meinrad Helmperger" sowie in ihrem letzten „Graf Reichard" (III, 63 ff., „Held und Heiliger") gedenkt. Nachdem ihre Mutter 1901 •gestorben war, zog sie 1905 mit ihrem Onkel Anton, der Kal!serlicher Gerichtspräsident in Steyr wurde, und mit Tante Luise dorthin, wo sie bis 1911 wohnte und ihre Steyrer Romane (Die arme Margaret; Stephana Sch wertner) schrieb. Als 1911 Onkel Anton als Landesgerichts- präsident nach Linz v.e r,setzt wurde, ging sie mit und verbrachte ihr weiter·es Leben in der oberösterreichi,schen Landeshauptstadt. Auch als Onkel Anton 1913 und Tante Luise 1921 gestorben waren, blieb sie -in ihrer Wohnung Spittelwiese 15. In der Jugend hatte sie wohl kleine Reisen gemacht, Sommeraufenthalt in beliebten Sommerfrischen genommen: am Wörther See, in Veldes, bei Verwandten auf Land- gütern, ein paarmal auch in Maria Taferl. Dort keimte der „Meinrad", zu dem sie Mate11ial im Pfarrhof bei Dechant Dobner, ihrem ehemaligen Religionslehrer in St. Pöl- ten, fand. Aber ab 1921 blieb sie kaum länger als ein paar Tage fern von Linz 15 • Mit wachsendem Ruhme viel besucht, mied sie doch in Gesellschaft zu gehen und vereinsamte mit zunehmendem Alter immer mehr. Nur einige Freunde hatte sie, die ihr nahestanden und sie besuchten. Sie spann sich immer mehr ein und lebte ganz 14

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