Zum 100. Geburtstag von Enrica Handel-Mazzetti

Protestantin. Ihr Vater, also der Urgroßvater Enricas, M. de Chappins, war in der Schweiz als reformierter Prediger tätig gewesen 7 , was sich wohl irgendwie noch in „Graf Reichard" spiegelt. Die Großmutter, eine zarte und überaus fromme Frau, ließ ihr Kind Irene 1857 im Alter von 13 Jahren zurück, als sie starb. Irene selbst war noch Protestantin , Kalvinerin. Zu Lebzeiten ihrer Mutter wurde sie von einer ungarischen Gouvernante erzogen, später durch eine Engländerin weiter ausgebildet. Der Vater, der sehr streng war, zeigte in religiöser Hinsicht josephinisch-liberale Ansichten und eine unkirchliche Einstellung. Äußerst genau wurde Theaterbesuch und Lektüre über- wacht. Trotz seiner sieben noch unerwachsenen Kinder heiratete der Vater nicht mehr, weil er für seine Kinder keine Stiefmutter haben wollte; die älte~te Tochter mußte die Mutter ersetzen. So wuchs Irene in trüber freudloser Jugend auf und spvach nie gern davon. Sie war von hoher schlanker Gestalt, während ihr Gemahl Heinrich Hyppolyt zierlich-klein an die dtalienische Abstammung seiner Mutter denken ließ. Er war nicht von kräftigem Körperbau, aber sehr ehrgeizig und -strebsam, was an seinen Groß- vater Antonio erinnert. Er starb früh, 1870, an einer Gehirnhautentzündung, die er sich bei Mappierungsarbeiten in glühender Sonne durch einen Sonnenstich zu- gezogen hatte. Leben Enrica, nach ihrem Vater Heinrich italianisiert benannt, kam als nachgeborenes Kind in Wien am 10. Jänner 1871 zur Welt, ihre Schwester Elvira war am 1. November 1869 geboren worden. Von den Vorfahren hatte sie also deutsches, italienisches, hollän- disches und ungarisches Blut in den Adern und schien darum auch anderen Kulturen als -der deutschen gegenüber aufgeschlossen. Von wem sie ihre Begabung hatte, ist schwer zu sagen. Die Handel waren gute Beamte und Militärs, ebenso die Csergheö, über die man aber wenig weiß. Der italienische Großvater Antonio Mazzetti, einer der berühmtesten Juristen Italiens 8 , scheint hingegen auch dichterisch begabt gewesen zu sein, wenn man das aus seinem neulateinischen Carmen auf Kaiser Ferdinand I. zu ,dessen Krönung mit der ei<sernen Krone der Lombarden in Mailand 1838 schlie- ßen darf, das auch Silvio Pellico in „I miei Prrgioni" erwähnt 0 • Aber Poesie gehörte ja damals noch zu den Lehrgegenständen des Gymnasiums, •so daß auch dieser Fingerzeig ungewiß bleibt 10 . Wichtiger war der konfessionelle Unterschied der beiden Eltern, der sich in religiösen Auseinandersetzungen mit den katholischen Handel gel- tend machte. Denn die Mutter war protestantisch 11 , vermutlich kalvini•schen Bekennt- nisses, wenn auch ihrer Haltung nach liberal. Aber die religiöse Erziehung wurde des- halb nicht vernachlässigt . Einiges von diesen Dingen spiegelt sich wohl noch in den letzten Romanen, ,,Die Waxenbergerin" und „Graf Reichard", wider. Nach der häus- lichen Erziehung und der Bürgerschule kamen die beiden Mädchen nach St. Pölten in das Institut der Englischen Fräulein zur weiteren Ausbildung, und dieses Kloster- jahr 1886/ 87 war für beide entscheidend. Nicht nur, daß sie eben weiter unterrichtet wurden: Das Zusammenleben im Kloster, die stark religiös betonte Atmosphäre, klösterliche Einrichtungen und Gepflogenheiten, strenge Tageseinteilung, Festlichkeiten wie Theateraufführungen - eine wird später im „Rosenwunder" geschildert - ließen Enrica dieses „denkwürdige Jahr" nie vergessen und mit kindlicher Liebe und Dankbar- keit hing sie zeitlebens an diesem Kloster, das ihr unvergeßlich blieb. Sicher war es auch das Gefühl der Geborg•enheit, des umgrenzten Daseins gegenüber der Ufer- losigkeit und Unruhe der Welt, und gewiß war es weitgehend die religiöse Belehrung, Übung und Umgebung, die das Empfinden umhegten Glückes erzeugten. ,,Mein liebes St. Pöltner Englisches Institut!" schrieb die Dichterin später. ,,Die süß- lächelnde Himmelskönigin breitete im Pfortenbild ihren blauen Courmantel über das grellrote Dach eines Hauses im Meriangeschmack. Engel mit römischen Stiefeln, Heilige mit flatternden Locken, runde Kindlein, die auf ebenso runden Schnörkeln ritten, lach- ten fröhlich von der Front aus dem 17. in das 19. Jahrhundert hinein. Und auch innen war alles vieux genre. Die Kirche war frohes, leuchtendes Barock. Von der liliengekrön- ren Jungfrau und den graziös s-ich wiegenden Cherubim Reslfelds auf dem Hochaltar bis zum rotmarmornen Denkstein, von vergoldeter Tiara gekrönt, der in blassen Lettern 13 verkündete, daß in diesem Kirchlein Pius VI. auf jener Reise zum Imperator Rast

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