Zum 100. Geburtstag von Enrica Handel-Mazzetti

Dokumente zum Modernismusstreit und zum Plagiatskonflikt mit Karl Schönherr sind reichlich vorhanden. Wer die ersten zwanzig Jahre des 20. Jahrhunderts erlebte und literarisch einiger- maßen interessiert war, wird sich noch heute daran erinnern, welches Aufsehen die Romane der Handel-Mazzetti machten. Denn man hatte nicht nur eine neue Dichterin gewonnen, diese Dichterin zeigte ein ganz eigene Art. Sie ,schien aus der Vergangenheit heraus zu dichten, die sie bis auf die Sprache genau zu kennen schien, und sie wußte in ,einer Art zu erzählen, daß man hingeri-ssen war. Trotz mancher Unwahrschein- lichkeiten, ja manchmal Unmöglichkeiten, die man freilich erst nach der Lektüre er- kannte, glaubte man an das, was sie erzählte, als wäre es wirklich geschehen. Ihre Romane erschienen oft in großen Pausen, aber dann brachte sie statt einem drei Bände auf einmal, wenn ihr die Handlung überquoll und sie mit einem Band nicht mehr das Auslangen fand. Dabei .schien sie vom Naturalismus herzukommen, der aber eigent- lich schon überwunden war, ließ dann aber auch Züge merken, die mit dem Naturalismus gar nichts zu tun hatten, so daß man zuweilen ratlos stand. Aber ihre Romane, wiewohl sie aus verschiedenen Gründen auch angegriffen wurden, bedeute- ten doch einen Riesenerfolg. Es erschien Auflage um Auflage, es gab Über,setzungen, Dramatisierungen, Schulausgaben. Manchem schien diese Art von Dichtung über- steigert und überhitzt, aber war denn der Expres,sionismtl!s nicht noch ganz anders? Anderen war das religiöse Moment zu stark betont, wieder andere stießen sich an Greuel- und Marterszenen, man sprach von Hysterie, ja von Sadismus. Aber man griff trotzdem immer wieder nach den Büchern dieser Dichterin, deren Können unbestritten, wenn auch eigenartig war. Da ihre Romane zu bestimmter historischer Zeit an bestimmten Orten spielten und diese Dinge für die Dichtungen nicht belanglos waren, reihte man sie in die Rubrik „Heimatkunst" ein. Doch sind sie im Grunde eigentlich anderen Wesens. Neben ihren großen Romanen hat die Dichterin eine ganze Reihe kleinerer Arbeiten geschrieben, die man nicht übersehen oder vernachlässigen darf, denn sie sind durchaus nicht Nebensache und helfen das Gesamtbild zu untermalen, das sonst einseitig bliebe. Nur so kann man zum Wesen ihrer Kunst vorstoßen, ohne sich einer einseitigen Betrachtung schuldig zu machen. Und auch sonst wird manches erwähnt werden müssen, um das Bild zu runden. Denn diese Schrift will weder feiern noch tadeln, sondern sie sucht das Wesen Handel-Mazzettis und ihrer Kunst zu klären, soweit das heute möglich ist. Handel-Mazzetti war zu ihrer Zeit wohl die am meisten gelesene Dichterin Österreichs. Sie galt als seine größte Dichterin, vor der die alte Marie v. Ebner-Eschenbach sich in Freude und Bewunderung neigte: ,,Ich bin Dir gegenüber keine Meisterin, Du nicht meine Schülerin. Vielmehr wür,de ich die Deine, wenn ich nicht so alt wäre 2 ." Ahnen und Herkunft Vielfältig ist die Blutmischung der Dichterin Enrica v. Handel-Mazzetti gewesen, wor- auf man ihre Einfühlung in fremde Völker und Stämme zurückführen wollte. Zweifel- los besaß sie die Begabung, fremdes zu erfassen und dem Verständnis zu erschließen. Denn sie war nicht nur bemüht, Angehörige verschiedener deutscher Stämme zu zeichnen, sie ließ auch jeden nach ,seinem Stand, ja •seiner Mundart ,sprechen, griff aber auch über das ,deutsche Volk hinaus und stellte Angehörige anderer Völker oft mit ein paar Strichen kenntlich dar. Vier Nationen vor allem sind in ihr zusammengeflossen: Deutsche, genauer gesagt Schwaben, Italiener, Holländer und Ungarn 3 • Die Handel saßen im 17. Jahrhundert in Schwaben4, ein Handel war 1656 bis 1676 Bürgermeister in Weißmain. Peter Handel studiert in Würzburg, wo er 1657 den Doktorgrad erwirbt. Frau Margarete Handel, geb. Knauer, wird 1674 der Hexerei bezichtigt und dreimal der Tortur unterworfen, an ,der,en Folgen sie schließlich starb, ohne aber verurteilt worden zu sein, denn sie hat ein christliches Begräbnis erhalten (1674 mit 75 Jahren ·am 14. Dezember gestorben). Die Handel standen vielfach im Dienst des Deutschen Ordens. Paul Anton Handel 11 führte die Deutschordens-Kanzlei in Mergentheim, wurde 1800 als Geisel ins französi-

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