Amtsblatt der Stadt Steyr 1997/11

Gesundbleiben weraen Verantwortung für die Gesundheit übernehmen Lebenskonzepte kostbar. Kündigen sich neue Fragen an, neue Engpässe, die es zu durchleben gilt, wird es Zeit, neue Erfahrungen zu machen. Alte Leit- sätze werden in Frage gestellt, neue Leitsätze werden der Lebensgestaltung unterlegt. Viel- leicht, liebe Leserin, lieber Leser, fällt Ihnen ei- ner Ihrer Leitsätze gleich ein. Oder Sie wollen sich Zeit nehmen, ihn zu suchen. Oder Sie schauen in den Spiegel und entdecken ihn in Ihrem Ausdruck. Wie so oft im Leben beginnt alles mit dem An- fang. Zuallererst erfährt menschliches Wesen den geschützten, bergenden Raum der Mutter, und kaum entfährt es ihm, widerfährt ihm schon Leben. Greller und kühler als bisher. Der Mensch hat begonnen, das Leben zu sei- nem zu machen, sein Leben zu erfahren. Auf welchem Kurs? Er nimmt seine Mitmenschen wahr: Wohltuend? Bösartig? Gleichgültig? Lie- bevoll? Seine unmittelbaren Gefühlsreaktionen: Weinen, schreien vor Wut, lachen, kreischen, schmunzeln, staunen ... Die ganze Bandbreite der Gefühle wird wahrgenommen und ausge- lebt. Das ist psychohygienisch äußerst empfeh- lenswert, weil es Voraussetzung für seelische Gesundheit ist. Diese Unschuld währt nur kurz. Spannungen treten auf. Gefühle werden als unerwünscht, schlecht, gut usw. wahrgenommen. Eltern set- zen so ihre Signale. Bedürfnisse werden nicht gestillt, weil nicht erkannt, oder wollen nicht gestillt werden. Also beginnt Susanne, Strategien zu entwik- keln, um mit diesen Spannungen leben zu kön- nen: sogenannte Lebensstrategien oder wenig- stens Überlebensstrategien. Einige der strategi- schen Mittel sind: hinunterschlucken, ignorie- ren, so tun als ob, abspalten, übergehen, ver- drängen oder annehmen, ergänzen, aushalten, einfügen, integrieren ... Indem Susanne ihre Lebensstrategie entwickelt und für sich pas- send befindet, nimmt sie Einfluß darauf, ■ was sie wie verkraftet, ■ was sie wie erscheinen läßt, ■ wie sie erlebt und handelt, ■ wie gesund oder krank sie sein wird, ■ welche Symptome sie entwickelt. Denkstrukturen bilden sich heraus. Darf bedin- gungslos gedacht werden? Vorerst ja. Gedanken geht es ähnlich wie den Gefühlen: Auch sie werden bald als falsch, schlecht, böse oder gut und edel dargestellt und bewertet. Im von der Familie zur Verfügung gestellten Raum erfährt Susanne ihr Leben. Sie lernt Strategien ihrer Mutter, ihres Vaters und ihrer Geschwister ken- nen und baut sie für ihre Bedürfnisse um. Auch der Staat definiert die Spielräume Susannes. Wiederholte und anhaltend lebensfeindliche Erfahrungen beeinträchtigen ihre Vitalität und 22/354 ihr Selbstwertgefühl, während Erfahrungen von Zärtlichkeit und Liebe sie wachsen lassen. Sind die Lebenskonzepte der er- sten Zeit veränderbar? Vie lleicht erweiterbar? Herr X. z.B. hat mit Frau Y. und vielen anderen etwas gemeinsam - das Bedürfnis nach Sicher- heit: Lieber dieselbe lebensfeindliche Erfah- rung immer wieder machen, weil sie schon ver- traut ist, anstatt sich der Angst vor dem Zulas- sen neuer, vielleicht überraschender, lebens- fördernder Erfahrungen auszusetzen. Men- schen schlagen sich den Kopf immer wieder an derselben Stelle an, verschließen sich immer wieder in Si tuationen, in denen Offenheit, Los- lassen und Vertrauen sie glücklicher machen könnten. Erich sucht sich mit erstaunlicher Zielstrebig- keit immer wieder Partnerinnen, die seine Hoffnungen auf Beziehung immer wieder in ei- ner ähn lichen Weise enttäuschen. Im geschützten Rahmen einer Psychotherapie bietet sich die Möglichkeit, solche eingefahre- nen Verhaltensmuster zu erkennen und zu ver- ändern. Die Erleichterung über Enttäuschung wird zur Möglichkeit, klarer, entschiedener und der Wirklichkeit näher seine Dinge anzugehen. Psychotherapeutische Praxis ist angewiesen auf die Bereitschaft des Menschen, mitzuwirken am oft mühsamen Prozeß der Wiederherstel- lung von Klarheit. Befreiend wirkt Psychotlma- pie, wenn sich wieder etwas löst, ,,wenn der Groschen gefallen ist". Sich selbst zu finden, kann auch als Risiko er- lebt werden. Will ich das überhaupt? Werde ich mich an mir erschrecken? Gibt es eine Lösung für mich? Erfahrung ist ein zentraler Begriff in der Psychotherapie. „Aufgrund meiner bisherigen Erfahrung schlage ich folgendes vor ..." „Aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen schlage ich zurück." „Aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen vertraue ich mich weiteren Erfahrungen an." Lebenserfahrung gilt als Schatz durchlebten Le- bens: unbezahlbar, unverlierbar und deshalb Ein Beispiel aus der Praxis: Ein junger Mann muß wiederholt behandelt wer- den, weil er sich anffallend oft verletzt. Der Arzt rät ihm eine psychotherapeutische Be- handlung. Meine erste Erhebung der Lebens- umstände des jungen Mannes zeigt folgendes Bild: Mit 10 Jahren wurde er der elterlichen Wohnung verwiesen, weil sein Vater mit ihm nicht mehr zurecht kam. Der Sohn empfand den Vater willkürlich, unterdrückend und ge- walttätig. Aggressive Gefühle durfte nur der Vater zeigen, nicht der Sohn. Die Mutter konn- te den Sohn nicht schützen, wenn er vom Vater geschlagen wurde. Sie starb als der Sohn 9Jah- re alt war. Max machte folgende Erfahrungen in seiner Fami lie: Wenn ich tue, was mir guttut, gefä ll t das meinem Vater nicht. Schläge, Er- niedrigung. ,,Ich habe meinen Vater lieb." ,,Mei- ne Mutter hat Angst. Ich muß me ine Mutter schützen." ,,Ich habe meine Mutter lieb." ,,Ich habe immer alles getan, damit es wieder gut wird. Aber es ging nicht." Mit 12 Jahren wurde Max an einen Pflegeplatz gebracht. Der Vater hat sich seither nicht bei ihm gemeldet. ,,Was empfindest Du heute gegenüber Deinem Va- ter?" ,,Nichts. Die Watschen haben mir schon gehört." Max nimmt die Schu ld für die gewalttätigen Handlungen seines Vaters auf sich. Er macht sie zu seiner Erfahrung von Beziehung zu ei- nem trotz allem geliebten Menschen . Es ist ihm nicht möglich, seine Verletztheit zu fühlen , schon gar nicht Gefühle von Wut gegenüber dem Vater aufkommen zu lassen. ,,Das hätte ja gar keinen Sinn." Lieber nichts füh len und statt dessen die Wut gegen sich selbst richten. Er bestraft sich selbst dafür, daß er seinen Vater nicht zum Lieben be- wegen konnte. ,,Wenn ich mir ein Auto kauf', dann klescht's", stellt er sich selbst eine Pro- gnose. Max will die Zurückweisung durch sei- nen Vater heute noch nicht in ihrer gefühlsmä- ßigen Qyalität wahrhaben. Die Angst davor, an der erlittenen Zurückweisung zu zerbrechen, ist zu groß. · Ma . Alfons Rodläu ·

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