Amtsblatt der Stadt Steyr 1997/10
Gesundbleiben weraen Verantwortung für die Gesundheit übernehmen Das Leid mit dem Essen Eßstörungen im Jugendalter Da ich in meiner psychotherapeutischen Praxis immer häufiger mit Eßproblemen von Frauen und jungen Mädchen konfrontiert bin, möchte ich mich hiermi t eingehender mit der Phase des ersten Auftretens und den dort zu beobach- tenden Anzeichen von Eßstörungen befassen. Wichtig ist, daß Eßstörungen nicht gleichzuset- zen sind mit ungesund er oder überreicher Er- nährung. [m allgemeinen wird darunter eine spezifische Beziehung zum Essen und dem Thema Ernährung verstanden, di e charakteri- siert ist durch 1.) Essensverweigerung, die bi s zum Verhungern führen kann (Anorexia ner- vosa), oder durch 2.) einen zwanghaften Tri eb, große Nahrungsmengen zu verschlingen, um sie anschli eßend wi eder zu erbrechen oder mit Hilfe von Abführmitteln aus demKörper zu entfernen (Bulimie). Dabei erleben di e Betrof- fenen einen inneren Druck, sich so zu verhal- ten, der suchtähnlichen Charakter annimmt, und als dessen Ursache heftige innere Konflik- te und damit verbundene seelische Probleme angenommen werden. Auf diese Weise entsteht ein Regelkreis, dessen Unterbrechung ohne therapeutische Hilfe kaum mögli ch ist. Insbe- sondere, da die Betroffenen ihr Verhalten oft jahrelang geheim halten, und es ihnen schwe r fällt zu akzeptieren, daß sie krank sind bzw. sich auf demWeg zu einer Krankheit befind en. Da fa st all e Kinder/jugendlichen in der Zeit der Pubertät mit demEssen experimenti eren, sind di e ersten Anze ichen der Krankh eit leicht zu übersehen. Die Pubertät zwischen l 0. und 14. Lebensjahr - mit fli eßenden Grenzen - ist ein sensibler Lebensabschnitt. Hauptthemen sind di e beginnende Ablösung vom Elternhaus und die Entwicklung der eigenen Ich - und Geschlechtsidentität. Diese Phase kann auch al s die „2. Geburt" bezeichnet werden. In klei - nen Schritten kündigen sich die ersten Gehver- suche in di e Erwachsenenwelt an. Gl eichzeitig mit den hormonellen Umstellungen auf der körperlichen Ebene vollzieht sich eine seelische Wandlung, die im individuell unterschiedlichen Zeitmaß die emotionale Landschaft grundle- gend verändert. Diese Entwicklungsphase ist geprägt durch besondere Verl etzlichkeit, Unsi - cherheit und das Gefühl von Schutzlosigkeit. Vertrautes (das Kindsein) geht unwiederbring- lich zu Ende. Die Heranwachsenden müssen 22/322 sich völlig neu orientieren . In kaum einer an- deren Lebensphase wird die Frage nach dem Sinn des Lebens und der eigenen Stellung in der Gesellschaft so radikal gestellt. Vi ele Psychologinnen bezeichnen di esen Prozeß al s großes Abschiednehmen . So wi e sich in der in- neren Welt ein Wandel vollzieht, so wird auch das äußere Erscheinungsbild permanenten Prü- fungen unterzogen. Vor all em junge Mädchen beginnen, ihren Körper - oft von Selbstzweifel geplagt - kriti sch im Spiegel zu betrachten und Vergleiche mi t demgängigen Schönheitsideal zu ziehen. [n einer Zeit der beginnenden sexu- ellen Anziehung der Ge~dilethter tritt die Fra- ge nach der eigenen Attraktivität immer mehr in den Vordergrund . In di eser Phase des Über- gangs vom Kind - zum Frause in we rden di e Mädchen damit konfrontiert , daß im gängigen Frauenbild vor all em„Gefüh l" und Attraktivi - tät gefragt sind und kaum jemand ihre Weib- li chkeit mit sachbezogenen Leistungen in Zu- sammenhang bringt. Anerkennung erhält, wer demgängigen Schönheitsideal entspricht. Kaum eine Mutter kommt in di esemKampf ungeschoren davon. Es gilt für di e Mädchen, ein e Identi tä t zu find en, di e jene der Mutt er aufnimmt, sich jedoch genauso deutli ch von ihr unterscheidet. Das langjährige mütterli che Vor- bild wird einer intensiven Überprüfung unter- zogen. Manche Mädchen rebellieren gegen das ihnen auferl eg te Weibli chkeitsideal so heftig, daß sie einen still en Kampf gegen ihren Körper aufnehmen. Es kommt zu ersten Versuchen, den Körper „in Form" zu bringen. Diäten und Kuren werden ausprobit rt und können al s er- ste Signale gedeutet weiden, daß di e Betroffe- nen Probleme mit ihrem Körperbewußtsein ha- ben. Deutliches Zeichen einer beginnenden Eßstö- rung ist die große Aufmerksamkeit, die der Nahrung zukommt mit gleichzeitiger Abnahme des Interesses für Lieblingsspeisen. Die ent- spannte Lust am Essen geht verloren. Nach au- ßen hin wirken die Mädchen stabil und selbst- bewußt und sind oft gute Schülerinnen. Es gibt keine Regel, die besagt, wann jemand Eßstö- rungen entwickelt. Als ursächliche familiäre Rahmenbedingungen werden enge Normen und geringe Chancen, ein eigenes, selbständi- ges „Ich" wachsen zu lassen, vermutet. Im Kampf mit demEssen stellen die Mädchen ihre eigenen Normen, jetzt haben sie selbst di e Kontrolle in der Hand! Der Verlust eines jeden Gramms, jeder kl einen weiblichen Rundung wird als „Sieg" auf demWeg zur eigenen Auto- nomie erl ebt. Signale der Magersucht CAnorexia nervosa): Das Thema Essen wird zum Lebensinhalt. Die Nahrungsmittel werden in „gut" und „böse" eingeteilt. Zähl en und Berechn en von Kalori en bes timmt di e Gedanken. Beim Essen sind di e jugendli chen ausgesprochen wähl erisch, was die Mengen und Zusammensetzung der Nah- rung betrifft. Zusätzli ch werden anstrengende Sportarten betrieben. Je länger di e Sorge ums „Dünn-werden" andauert , umso mehr wird di e Psyche vom Essen gefa ngen genommen. Schät- zungen zufolge sind 2 von 100 Mädchen zwi- schen 15 und 18 Jahren mage rsüchtig. Auf di e Nahrungsreduktion fol gt das bewußte ! lun- ge rn . Die Eigenwahrn ehmung wird bee inträch- tigt, sodaß bereits oft bis zum Skelett abgema- ge rt e jugendli che sich immer noch zu di ck füh - len. Signale der Eß- und Brechsucht CBulimie) : Die betroffenen Jugendlieben behalt en meist ihr Normalgewicht. Da sie keinen so offen- sichtlichen Gewinn aus ihrer Kra nkh eit ziehen wie mage rsii chtige Jugendliche, leiden sie oft un end lich an ihremScheitern , ihr Gewi cht zu reduzieren. Sie wirken nach außen hin oft un - auffällig, haben viele soziale Kontakte und scheinen normal zu essen. Heimlich werden dann anfall sa rtig große Essensmengen ve rtilgt, um sie gleich darauf wi eder zu erbrechen. Au ch bei diesen jugendli chen kreisen di e Gedanken in erster Linie ums Essen. Im Unterschi ed zu Magersüchtigen erkennen sie häufig ihre Krankheit, fühl en sich aber in einem ausweglo- sen Kreislauf gefangen. Di f' hf'11tf' immer noch starke Tabuisierung dieser Krankh eit verstärkt den Weg in die Heimlichkeit. Hilfen und Alternativen können in den mei- sten Pällen nur von unabhängigen Fachleuten kommen, kaum von der eigenen Familie, da Eßstörungen immer Versuche sind, ti efe innere Konflikte zu bewältigen , die mei st eng mit dem Familiensystem als Ganzes zusammenhängen. Das Eßverhalten magersüchtiger als auch buli - mischer Jugendlicher hat schwerwiegende Aus- Dr. Karin M. Bay,1 steyr
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