Amtsblatt der Stadt Steyr 1988/3

1938 Der Weg zum März 1938 Bereits am Beginn der Ersten Republik gab es Bestrebungen zu einer friedlichen Wiedervereinigung, doch sind diese Vor- ste llungen nach dem ausdrücklichen Ver- bot durch die Siegermächte des Ersten Weltkrieges verworfen worden . Deutsch- land hat diese Bestrebungen aus wirt- schaftlichen und politischen Gründen nicht aufgegeben und besonders nach der Machtübernahme durch die Nationalso- zialisten im März 1933 durch ihre aggressi- ve Außenpolitik weiter vorangetrieben. Der deutschen Industrie ging es um die österreichischen Goldreserven, die noch ungenutzten Wasserkräfte und die Roh- ZEITZEUGE DR. RICHARD TREML: In den Kirchen stille Messen ,,Am 13. März, einem Sonntag, mar- schieren Polizei , Militär, SA und SS über den Stadtplatz, in den Kirchen waren nur stille Messen. Die Steyrer Pfadfinderführer treffen bei Pater Ma- neschg zusammen, um über die Lage zu sprechen. Hinter dem Jesuitenpater Wackerle, dem Führer der Kongrega- tion, ist schon die Gestapo her. Um die Papiere zu retten , ersucht er mich, ihm die Tasche zur Bahn zu tragen, weil er damit auffallen würde. Er geht wie ein Tagesausflügler ohne Gepäck, ich stelle ihm die Tasche ins Zugsabteil. Unser Schaukasten wird zertrümmert und in die Enns geworfen, die Pfadfinder wer- den von ihren Mitschülern geschnit- ten." stoffe fü~. die immense Aufrüstung. Aber auch in Osterreich spielte der Deutschna- tionalismus in beinahe allen politischen Lagern eine gew_i_sse Rolle und führte bis zur Erklärung Osterreichs zum zweiten „deulschen SLaaL" im Abkommen mit Deutschland vom Juli 1936. Bundeskanz- ler Schuschnigg entschloß sich zu spät, Brücken zur Arbeiterbewegung zu schla- gen. So konnte die von ihm für den 13. März 1938 geplante Volksbefragung, der - trotz Vorbehalten - auch die illega- len Arbeiterorganisationen zustimmten, nicht mehr durchgeführt werden. Nicht nur die militärische und ökonomi- sche Bedrohung spielte im März 1938 eine Rolle , sondern auch die aktive Rolle der von Deutschland aus angeleiteten NSDAP, die in fast ganz Österreich die Macht übernommen hatte, noch bevor der erste deutsche Soldat die Grenze über- schritt. 1945 !II Steyr ll'llrde am 12. Miir:. 1938 11111 8 Uhr friih der damaliKe Biirf{ermeister 1·0111 NSDA P- Kreisleiter Ra11.1·111a_rr aufgefordert, die Gemeilldef{eschiifie :.11 iiherf{ehen. Vollzogene Machtergreifung Die Volksabstimmung der Nationalsoziali- sten am 10. April 1938 sollte die bereits vollzogene Machtergreifung durch Zu- stimmung der Bevölkerung absegnen. Bei der Beurteilung der großen Zustim- mung zum „Ansch luß" auch der Steyrer Bevölkerung bei der Volksabstii:i:imung am 10. April 1938 dürfen wichtige Uberlegun- gen nicht außer acht gelassen werden. Neben der Wirtschaftsbelebung durch die Aufrüstung verfehlten die positiven Stel- lungnahmen zum „Anschluß" von Karl Renner und der Kirchenführung bei gro- ßen Teilen der Bevölkerung die von Na- tionalsozialisten beabsichtigte und einge- plante Wirkung nicht. Die Zustimmung zum Anschluß darf allerdings nicht in jedem Fall als Zustimmung zum National- sozialismus insgesamt gewertet werden. Durch die erste große Verhaftungswelle der Nationalsozialisten saßen viele Gegner zu diesem Zeitpunkt bereits in Gefängnis- sen oder Konzentrationslagern . Die Wäh- ler standen unter massivem Druck: Vor den Abstimmungskommissionen mußten die Stimmzettel mit dem zum „Nein" übergroß aufgedruckten „Ja" vielfach .of- fen ausgefüllt werden. Von einigen weni- gen , wie dem Pionier des Steyrer Arbeiter- sportes Otto Pens l, ist dennoch bekannt, daß er offen gegen den „Anschluß" ge- stimmt hat. ,, . .. hätten am liebsten auch ihre Füße in die Höhe gerissen zum Hitler-Gruß • • • " „Ai:i:i 13. März rückten deutsche Truppen in Osterreich ein. Auch in Steyr kam viel deutsches Militär an, beg~üßt von sonni- gem, warmem Wetter. Uberall mußten Quartiere zur Verfügung gestellt werden. Auch der Pfarrhof mußte zwölf bis fünf- zehn Soldaten aufnehmen und verpflegen. Wir wußten , wieviel es nun geschlagen hat: Österreich ist durch einen Gewalt- streich erledigt, Deutschland angeschlos- sen. Viele charakterlose Menschen hüpf- ten tischhoch vor Freude über das Ende ihres Vaterlandes, hätten am liebsten auch ihre Füße in die Höhe gerissen -~um „Hit- lergruß". Durch die Besetzung Osterreichs war die angesagte \Y.ahl, die sicher mit großer Majorität für Osterreichs Selbstän- digkeit entschieden hätte, illusorisch ge- macht. Gleich am nächsten Tag kamen die Hitler- jungen in den Pfarrhof, warfen die Stu- dentenvereinigung „Turm" aus ihrem Lo- kal und nahmen dieses für sich in An- spruch. Der Kommandant, Leutnant Braun , in Zivil Blindenlehrer in München , zerstreute alle unsere Befürchtungen dies- bezüglich wie auch hinsichtlich der religi- ösen Betätigung. Ein Leben und Treiben herrscht in der Stadt - ganz beängstigend. Wir kennen uns selber nimmer aus. Wir schauen zum Fenster hinaus - es ist dieselbe Gegend wie sonst - und doch nicht dieselbe. Ein Alp liegt auf uns, Verhaftungen sind im Gange ..." (Aus der Chronik der Stadt- pfarre Steyr 1938.)

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