Amtsblatt der Stadt Steyr 1988/3
Liebe Leser, in diesen Tagen jährt sich zum 50. Mal je- ner Augenblick, als am Abend des 11. März 1938 mit den Worten des damaligen Bun- deskanzlers Dr. Kurt Schuschnigg, ,,wir H(_eichen der Gewalt", die Erste Republik Osterreich praktisch zu existieren aufgehört hatte. Wenn wir heute, fünfzig Jahre danach, die- ser Ereignisse im Amtsblatt der Stadt Steyr in ausführlicher Weise gedenken, so ist die- se Rückerinnerung überschattet von Proble- men, denen unsere Republik gegenwärtig gegenübersteht. Heute wie damals ist das Land mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert und akute innenpolitische Spannungen verunsichern die Menschen. Einmischungen aus dem Ausland, gleich mit welcher Absicht auch immer sie erfolgen, tragen dazu bei, daß das Geschichtsbild ver- schoben wird und das Gedenken zunehmend in ein Spannungsfeld geraten ist. Dadurch tritt auch bei der Generation, welche diese Zeit nur als Kinder oder überhaupt noch nicht erlebt hat, plötzlich die Frage nach ei- nem schuldhaften Verhalten der Eltern- generation stärker in den Vordergrund, lenkt von einer leidenschaftslosen Rück- schau ab und verwehrt den Blick in die Zu- kunft. Ich glaube daher, daß es nicht sinnvoll ist zu versuchen, durch Selbstbeschuldigungen und Schuldzuweisungen die Vergangenheit zu bewältigen. Vielmehr sollten wir aus ei- ner sachlichen Analyse der Geschichte sinn- volle Schlüsse für die Gegenwart und die zu- künftige Gestaltung unseres Staates ziehen, damit eine Wiederholung der schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit unmöglich wird. Wir dürfen dabei aber nicht nur die furchtbaren Auswirkungen sehen, sondern müssen auch die Ursachen erkennen. Der Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in Österreich am 12. März 1938 kam nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Er war nur der Schlußpunkt hinter einer unheilvol- len Entwicklung, die schon in der Geburts- stunde der Ersten Republik nach dem Ende des verlorenen Ersten Welkrieges ihren An- fang nahm. Nach dem Verfall des Vielvöl- kerstaates mußten die Menschen, denen bis- her nur die Staatsform der Monarchie ver- traut war, mit den neuen Instrumenten Re- publik und Demokratie umgehen lernen. Die schreckliche Unmenschlichkeit der NS-Diktatur darf sich nicht mehr wiederholen Dies ist, so glaube ich, nicht gelungen, denn sonst hätte es nicht geschehen können, daß die aus bitterer Not geborene Koalition zwi- schen Sozialdemokraten und Christlichso- zialen in kurzer Zeit zerbrach. Schon in den ersten Stunden der Republik fand auch aus unterschiedlichen Beweggründen der Ge- danke eines Anschlusses an Deutschland großes Echo. Ein großer Teil der Anschluß- befürworter war sicher der Meinung, daß das „Restösterreich" nicht lebensfähig sein würde. Dieser Ansicht wurde selbst in höch- sten Regierungskreisen nicht widerspro- chen. Wirtschaftliche Probleme, eine wachsende Kluft zwischen Armut und Reichtum und gegensätzliche politische Positionen führten in der Folge zum Klassenkampf, zu einer Polarisierung der politischen Lager, welche in den Ereignissen des Februar 1934 einen traurigen Höhepunkt fand. Aus einer Fehl- einschätzung der Lage wurde die Sozialde- mokratie, der Austromarxismus wie er auch genannt wurde, zum 11auptfeind erklärt und dabei übersehen, daß die wirkliche Gefahr jenseits der Grenzen mit dem Faschismus drohend aufstieg. Man übersah oder igno- rierte da_~ Aufkommen des Nationalsozialis- mus in Osterreich, und selbst der von Hit- lerdeutschland gelenkte Putschversuch im Jahre 1934 mit der Ermordung des Bundes- kanzler:_s Dr. Engelbert Dol!Juß bewirkte keine Anderung in der Innenpolitik. Trotz dieser schockierenden Ereignisse fand dasJ]edankengut des Nationalsozialismus in Osterreich einen fruchtbaren Nährboden, und viele Menschen wandten sich im gehei- men aus den verschiedensten Gründen die- ser Ideologie zu. Vieles, das wir heute aus erhalten gebliebe- nen Archiven wissen, war aber den Men- schen damals nicht bekannt. Sie wußten nichts von den Plänen Hitlers zur Zerschla- gung der Republik Österreich und der Tschechoslowakei, welche er schon im No- vember 1937 seinen Generälen dargelegt hatte, sie wußten nicht, wie Bundeskanzler Dr. Schuschnigg von Hitler bei der histori- schen Begegnung aufdem Obersalzberg im Februar 1938 unter Druck gesetzt wurde, und sie kannten auch nicht den Wortlaut der Telefongespräche zwischen Berlin und Wien am Abend des 11. März, welche dem Einmarsch der deutschen Truppen unmittel- bar vorausgingen. Ich wage zu behaupten, es hätten weitaus weniger Menschen an den Straßenrändern gejubelt, wären damals alle diese Tatsachen bekannt gewesen. Aber auch dies hätte wahrscheinlich den Laufder Geschichte nicht aufgehalten oder verändert, denn die ganze Welt schwieg da- zu. Unser Land, über Nacht von der Land- karte verschwunden, wurde in den Strudel von Gewalt und Terror mit hineingezogen, und auch viele unserer Landsleute haben große persönliche Schuld aufsich geladen. Diesen Tatsachen können und dürfen wir uns im Rückblick nicht verschließen. Wir müssen aber ents~_hieden den Vorwurfeiner Kollektivschuld Osterreichs und der Oster- reicher zurilckweisen, dies gebietet allein schon der Respekt und die Ehrfurcht vor den zahllosen Opfern des NS-Regimes. Die Lehre aus der Geschichte sollte daher heißen: Hüten und bewahren wir das höchste Gut, das wir besitzen, die Demokratie und unsere Freiheit. Seien wir wachsam und setzen wir unsere ganze Kraft ein, daß jener unselige Geist niemals wiederkehrt. Uberwinden wir mit Toleranz und Verständnis bestehende Gegensätze und meistern wir im gemeinsa- men Wollen die vorhandenen Schwierigkei- ten zum Wohle des Landes und der zukünftigen Generation. Heinrich Schwarz Bürgermeister
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